x (Sujet Verlag)
Oktober 2024
Sankofa von Doğan Akhanlı
Als ich Sankofa von Doğan Akhanlı in die Hand nahm, wusste ich, dass mich ein tiefgründiges und emotional aufgeladenes Werk erwartet. Akhanlı ist bekannt für seine Auseinandersetzung mit politischer Gewalt und den Schatten der Geschichte, und in diesem Roman entfaltet er erneut sein brillantes Erzähltalent. Sein letztes großes Werk, das kurz vor seinem Tod im Jahr 2021 abgeschlossen wurde, behandelt die großen Themen von Macht, Widerstand und die universelle Frage nach Gerechtigkeit – verpackt in komplexe, bewegende Geschichten, die sowohl historisch als auch erschütternd aktuell sind.
Ein breites Erzählpanorama
Sankofa erzählt von verschiedenen Figuren und Schicksalen, die geografisch und zeitlich auseinanderliegen, aber durch das Thema der politischen Verfolgung und gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten miteinander verbunden sind. Akhanlı führt uns von den Ereignissen des Militärputsches in der Türkei 1980 bis hin zu aktuellen Themen wie dem NSU-Terror in Deutschland und der Black Lives Matter-Bewegung. Dabei verwebt er geschickt die türkische und deutsche Geschichte und setzt sich kritisch mit beiden auseinander. Besonders beeindruckend finde ich, wie er es schafft, die Perspektive von Tätern und Opfern zu verschmelzen, sodass die Grenze zwischen beiden oft unscharf wird. Es ist ein Buch, das sich tief mit Fragen von Schuld, Verantwortung und Reue auseinandersetzt, ohne einfache Antworten zu liefern.
Figuren mit Tiefgang
Die Charaktere in Sankofa sind keine moralischen Abziehbilder, sondern Menschen mit Widersprüchen, inneren Konflikten und einer komplexen Vergangenheit. Besonders ergreifend finde ich die Geschichte von Tayfun Kara, einem Schriftsteller, der für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, zum Tode verurteilt wurde, jedoch durch einen 85 Meter langen Tunnel aus dem Gefängnis flieht. Diese Flucht verbindet ihn auf unerwartete Weise mit einem Oberleutnant, der später selbst zu einer Schlüsselfigur in der Geschichte wird. Akhanlı zeigt hier meisterhaft, wie Schicksale über Jahrzehnte miteinander verwoben bleiben und wie sich persönliche und politische Entwicklungen auf eine Weise überlagern, die oft nur im Rückblick zu verstehen ist.
Ein transnationales Werk
Sankofa ist ein transnationales Werk, das sich über Kontinente hinweg bewegt – von der Türkei über Deutschland bis in die USA. Es lässt uns durch die Augen von Menschen blicken, die zwischen diesen Welten hin- und hergerissen sind. Akhanlı reflektiert dabei nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über aktuelle politische und soziale Kämpfe. In einer Welt, die sich immer mehr polarisiert, wirkt dieses Buch wie ein Appell an die Menschlichkeit und das gegenseitige Verständnis.
Zum Autor: Doğan Akhanlı
Doğan Akhanlı, geboren 1957 in der Türkei und gestorben 2021 in Berlin, war ein bedeutender Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist, dessen Werk von politischen Umbrüchen und Verfolgung geprägt war. Er kam 1991 als politischer Flüchtling nach Deutschland und setzte sich fortan mit den Genoziden des 20. Jahrhunderts auseinander. Zu seinen bekanntesten Werken zählen Die Tage ohne Vater (2016) und Madonnas letzter Traum (2019). Akhanlıs eigene Erfahrungen als politischer Gefangener in der Türkei sowie seine Verhaftung in Spanien 2017 beeinflussten seine literarische Arbeit stark. Sein Werk ist geprägt von dem Versuch, die Schrecken der Geschichte zu verarbeiten und Lehren daraus zu ziehen.
Sprachliche Brillanz und emotionale Tiefe
Akhanlıs Sprache ist präzise und eindringlich. Er verliert sich nie in belehrenden Tönen, sondern lässt die Geschichten für sich sprechen. Dabei lädt er uns Leser ein, Fragen zu stellen, die weit über die individuelle Geschichte hinausgehen. Besonders die Fähigkeit, verschiedene Zeitebenen und geografische Schauplätze nahtlos miteinander zu verbinden, beeindruckt mich. Jeder Abschnitt des Buches gibt uns einen anderen Blickwinkel auf dieselben universellen Themen, und doch fühlt sich keine der Geschichten unvollständig an.
Fazit: Ein Werk von zeitloser Relevanz
Sankofa ist ein Werk, das lange nachhallt. Es ist nicht nur eine Erinnerung an die Gewalt und das Leid, die Menschen einander zufügen, sondern auch ein Appell an das Potenzial zur Versöhnung und Heilung. Akhanlıs letzter Roman ist mehr als nur eine historische Abhandlung – es ist eine tief menschliche Erzählung, die in Zeiten wachsender Radikalisierung und Intoleranz an Dringlichkeit gewinnt. Ich kann es nur jedem empfehlen, der bereit ist, sich mit den tiefen Fragen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit auseinanderzusetzen.