In den Schatten unter der Brücke (Brot & Spiele Verlag)
Oktober 2024
Ein tiefgründiges Leseerlebnis
„In den Schatten unter der Brücke“ von Anna Fercher ist eine Sammlung von kurzen, lyrischen Prosatexten, die im Brot & Spiele Verlag erschienen ist. Das Buch besteht aus 140 Seiten voller dichter Atmosphäre, in denen die Autorin tief in das Thema der menschlichen Vergänglichkeit eintaucht. Was mich sofort fasziniert hat, ist die sprachliche Ausdruckskraft von Fercher, die es schafft, die alltägliche Idylle und die versteckte Bedrohlichkeit des Landlebens mit einer unglaublichen Präzision und Poesie einzufangen.
Themen des Vergessens und der Verdrängung
Die Sammlung thematisiert das Vergessen und Verdrängen auf eine Weise, die einen regelrecht in den Text hineinzieht. In einer Welt, die hektischer kaum sein könnte, scheint für die Protagonisten kaum Zeit zu bleiben, sich selbst zu verstehen oder ihre Träume zu erkunden. Die Identitäten der Charaktere bleiben unklar und fließend – eine bewusste Entscheidung der Autorin, um die universelle Natur menschlicher Sehnsüchte und Ängste widerzuspiegeln. Mich hat besonders beeindruckt, wie Anna Fercher es schafft, diese unsichtbaren Fäden der menschlichen Existenz zu verbinden, auch wenn die Figuren sich nie wirklich begegnen.
Die Stimmung: Zwischen Idylle und Bedrohung
Was dieses Buch so besonders macht, ist die Spannung zwischen nostalgischer Idylle und einer fast greifbaren Bedrohung. Die Landschaftsbeschreibungen, die Fercher mit einer an Lyrik grenzenden Prosa schildert, wecken Bilder von vergilbten Sommertagen und zugleich von dunklen, schattigen Plätzen, die eine gewisse Unruhe ausstrahlen. Diese Kontraste verleihen dem Buch eine einzigartige Atmosphäre, die mich als Leser nicht losgelassen hat. Die Luft, so heißt es in einer der Geschichten, sei „gesund und sauber“, doch auch „lebensgefährlich ehrlich.“ Genau diese Ehrlichkeit ist es, die das Buch für mich zu einem eindrucksvollen Erlebnis macht.
Über die Autorin
Anna Fercher, die bereits in mehreren Anthologien und Sammlungen vertreten war, schafft es in „In den Schatten unter der Brücke“, ihre sprachliche Raffinesse und die Fähigkeit, intensive Stimmungen zu erzeugen, auf den Punkt zu bringen. Ihre Texte sind geprägt von einer österreichischen Sichtweise, die sich in der Darstellung des Landlebens und der damit verbundenen Eigenheiten widerspiegelt. Die oft melancholischen, manchmal surreal anmutenden Geschichten laden dazu ein, sich Zeit zu nehmen und die subtile Schönheit der Sprache zu genießen.
Die lyrische Sprache als Stärke und Herausforderung
Ein weiteres Highlight des Buches ist die lyrische Sprache, die teilweise an Prosagedichte erinnert. Die Texte sind bewusst verdichtet und laden dazu ein, über jedes Wort nachzudenken. Diese Stilform ist jedoch auch anspruchsvoll – es ist kein Buch, das man einfach zwischendurch lesen kann. Vielmehr benötigt es Muße, um die Feinheiten und Nuancen der Sprache vollständig zu erfassen. Dieser lyrische Ansatz mag nicht für jeden Leser geeignet sein, doch wer sich darauf einlässt, wird mit eindrucksvollen Bildern und Gedanken belohnt.
Fazit: Ein Buch zum Nachdenken und Verweilen
„In den Schatten unter der Brücke“ ist ein Buch, das man nicht einfach aus der Hand legen kann. Die Geschichten sind kurz, doch die Eindrücke, die sie hinterlassen, bleiben lange im Gedächtnis. Anna Fercher schafft es, mit wenigen Worten eine dichte Atmosphäre zu erschaffen, die sowohl ein Gefühl von Nostalgie als auch von Bedrohung vermittelt. Die Texte sind poetisch und laden zum Nachdenken ein, insbesondere über das, was im Verborgenen liegt – sei es in uns selbst oder in der Welt um uns herum. Ein Buch, das ich jedem empfehlen kann, der Freude an anspruchsvoller, lyrischer Prosa hat und bereit ist, sich auf die leisen Töne des Lebens einzulassen.
Stilistische und inhaltliche Besonderheiten
Die Wahl der Worte und die Darstellung der Landschaften spiegeln Ferchers einzigartige Erzählweise wider. Mit einer Mischung aus Sehnsucht und unterschwelliger Gefahr beschreibt sie das einfache Leben auf dem Land und das ständige Gefühl, dass hinter jeder Ecke etwas Unausgesprochenes lauert. Dieses Buch ist ein perfektes Beispiel für moderne Kurzprosa, die sich traut, auch unbequeme Themen anzusprechen, ohne dabei ihre poetische Schönheit zu verlieren.
„In den Schatten unter der Brücke“ ist damit nicht nur ein literarisches Werk, sondern auch eine Einladung, innezuhalten und sich mit den eigenen Schatten auseinanderzusetzen. Wer gerne in Geschichten eintaucht, die mehr als das Offensichtliche erzählen und Raum für Interpretation lassen, wird dieses Buch schätzen.


