Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol (Goldmann Verlag)
Dezember 2024
Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol
Es war nicht die typische Neujahrsvorsatz-Stimmung, die mich zu diesem Experiment trieb. Ich hatte einfach genug von den immer gleichen Trinkritualen, den abendlichen Drinks und den gesellschaftlichen Erwartungen, die damit einhergingen. Ein Jahr ohne Alkohol – das klang wie eine Herausforderung, die mich reizte und verunsicherte zugleich. Felix Hutt beschreibt in seinem Buch „Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol“, was mit ihm und seinem Umfeld geschah, als er genau diesen radikalen Schritt wagte. Für mich war die Reise, die er schildert, eine Reise in die eigene Psyche, in die Tiefen der Gewohnheiten und gesellschaftlichen Zwänge, die oft unterschwellig wirken, aber ungeahnte Macht entfalten können.
Ein Blick auf den Autor
Felix Hutt ist ein Journalist und Autor, der bereits für große Medien wie den „Stern“ tätig war und für seine investigative Herangehensweise bekannt ist. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, gesellschaftliche und persönliche Themen direkt am eigenen Leib zu ergründen. Seine Selbstexperimente sind präzise recherchierte Projekte, die er mit einer schonungslosen Ehrlichkeit schildert. In „Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol“ zeigt Hutt diese journalistische Akribie ebenso wie seine Fähigkeit, tief in die menschliche Psyche und ihre Abgründe einzutauchen. Es ist kein belehrendes Buch, sondern ein lebendiger Bericht über ein Selbstexperiment, das oft schmerzhafter und lehrreicher ist, als es zu Beginn scheint.
Die ersten Wochen der Abstinenz
Die ersten Wochen ohne Alkohol schildert Hutt als eine Mischung aus Neugier, Euphorie und zunehmendem Unbehagen. Die Gewohnheiten, die uns im Alltag begleiten, werden erst spürbar, wenn wir sie durchbrechen. Für mich war die Frage faszinierend, wie tief diese Muster in unseren Alltag eingewebt sind. Felix Hutt beschreibt eindrücklich, wie oft er in den ersten Wochen in Versuchung geriet, „nur ein kleines Bier“ zu trinken – sei es beim Feierabendtreffen mit Kollegen oder bei einem simplen Essen im Restaurant. Doch er hielt durch und lernte, wie sehr gesellschaftliche Akzeptanz mit dem Konsum von Alkohol verknüpft ist.
Soziale Herausforderungen und Gruppenzwang
Eine der stärksten Botschaften des Buches ist die Erkenntnis, dass Nüchternheit nicht nur eine persönliche Herausforderung ist, sondern eine soziale. Hutt zeigt auf, wie sehr unser gesellschaftliches Miteinander vom Alkoholkonsum geprägt ist. Wer nicht trinkt, fällt auf. Er schildert in seinem Buch zahlreiche Situationen, in denen er sich erklären musste: „Warum trinkst du nichts?“, „Bist du krank?“ oder „Komm schon, ein Glas kann doch nicht schaden.“ Diese Reaktionen zeigen, wie stark der Gruppenzwang im Zusammenhang mit Alkohol ist. Hutt hält dem Leser den Spiegel vor und regt dazu an, die eigenen Verhaltensmuster und die Erwartungen des sozialen Umfelds zu hinterfragen.
Körperliche und psychische Veränderungen
Neben den sozialen Erkenntnissen beschreibt Felix Hutt auch die körperlichen und psychischen Veränderungen, die er im Laufe seines Experiments durchlebte. Die ersten Wochen waren von Kopfschmerzen und Schlafstörungen geprägt – Symptome des Entzugs, die viele unterschätzen, weil Alkohol als gesellschaftlich akzeptierte Droge oft verharmlost wird. Doch im Laufe der Monate bemerkte er, wie sich seine Energie steigerte, seine Konzentration zunahm und seine Stimmung stabiler wurde. Besonders eindrücklich ist die Schilderung eines Moments, in dem er sich nach langer Zeit wieder emotional klar und präsent fühlte – eine Art Wachheit, die er lange nicht gekannt hatte.
Der Umgang mit Rückschlägen
Natürlich verlief das Jahr nicht ohne Rückschläge. Hutt gibt offen zu, dass er manchmal kurz davor war, aufzugeben. Doch genau diese Ehrlichkeit macht das Buch so authentisch und nahbar. Es ist kein glatt polierter Bericht eines perfekten Experiments, sondern eine menschliche, nachvollziehbare Geschichte über Versuchungen und Willenskraft. Diese Offenheit ist es, die das Buch für mich so lesenswert macht.
Ein gesellschaftlicher Weckruf
Was mir besonders gefallen hat, ist die Botschaft, die über das persönliche Experiment hinausgeht. Hutt stellt nicht nur die eigene Alkoholsucht infrage, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen, die den Alkoholkonsum fördern und normalisieren. Warum ist es so schwer, in unserer Gesellschaft nüchtern zu sein? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und regt zum Nachdenken an. Es ist ein Buch, das nicht nur Menschen anspricht, die selbst mit dem Gedanken spielen, weniger oder gar keinen Alkohol mehr zu trinken, sondern auch all jene, die sich mit gesellschaftlichen Normen und Erwartungen auseinandersetzen wollen.
Fazit: Ein Jahr, das verändert
Felix Hutts Buch „Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol“ ist weit mehr als ein persönlicher Erfahrungsbericht. Es ist ein gesellschaftliches Plädoyer für mehr Selbstreflexion, für den Mut, gegen den Strom zu schwimmen, und für die Freiheit, die in der bewussten Entscheidung liegt. Es ist ein Buch, das inspiriert, bewegt und zum Nachdenken anregt – nicht nur über den eigenen Alkoholkonsum, sondern über das Leben insgesamt.
Für mich bleibt eine zentrale Erkenntnis aus diesem Buch hängen: Es ist nie zu spät, eingefahrene Gewohnheiten zu hinterfragen und neue Wege zu gehen. Veränderung ist möglich, wenn man bereit ist, sich selbst ehrlich zu hinterfragen.