Der Tunnel (Verlag Klaus Wagenbach)
September 2024
Der Tunnel von Ernesto Sabato
Ernesto Sabatos Der Tunnel ist ein faszinierendes Werk, das mich tief berührt hat. Es ist kein Roman, den man einfach liest und zur Seite legt – er fordert den Leser emotional und intellektuell heraus. Der Tunnel nimmt uns mit in die düstere Gedankenwelt des Künstlers Juan Pablo Castel, der seine Geschichte in Form eines inneren Monologs erzählt. Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass hier kein leichter Weg vor uns liegt. Castel gesteht direkt zu Beginn, dass er eine Frau, María, ermordet hat. Was folgt, ist eine schonungslose Darstellung seines schrittweisen Abstiegs in Wahnsinn und Verzweiflung.
Sabato schreibt in einem Stil, der sowohl direkt als auch tief philosophisch ist. Sein Werk erinnert stark an die großen existentialistischen Autoren wie Albert Camus und Jean-Paul Sartre, und es lässt sich leicht nachvollziehen, warum Der Tunnel oft in einem Atemzug mit Der Fremde von Camus genannt wird. Beide Romane beschäftigen sich mit der Sinnlosigkeit des Lebens und der Isolation des Individuums.
Die dunkle Reise des Protagonisten
Castel ist ein Maler, dessen Obsession für María ihn schließlich zum Mord treibt. Von Beginn an wird seine ungesunde Besessenheit deutlich. Eine kleine Geste von María – sie betrachtet eines seiner Gemälde und scheint dessen tiefere Bedeutung zu erkennen – reicht aus, um ihn in eine Welt der Fantasien und irrationalen Gefühle zu stürzen. Sabato gelingt es meisterhaft, die aufkeimende Eifersucht und den Besitzanspruch Castels darzustellen, der ihn immer tiefer in einen Tunnel führt, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Die Metapher des Tunnels zieht sich durch den gesamten Roman. Castel fühlt sich gefangen in seiner eigenen Realität, isoliert von der Außenwelt und unfähig, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Diese Isolation führt schließlich zu seiner Zerstörung – sowohl physisch als auch psychisch. Sabato zeigt uns, wie dünn die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn sein kann, und er lässt uns in die Gedankenwelt eines Mannes eintauchen, der diese Grenze überschritten hat.
Ein Blick auf den Autor: Ernesto Sabato
Ernesto Sabato wurde 1911 in Argentinien geboren und hatte zunächst eine akademische Karriere als Physiker eingeschlagen. Er arbeitete sogar in renommierten Forschungsinstituten in Paris und Boston. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wandte er sich von der Wissenschaft ab und widmete sich der Literatur. Diese biografische Wendung spiegelt sich auch in Der Tunnel wider. Sabato, der lange Zeit das Rationale und Wissenschaftliche in seinem Leben verfolgt hatte, bringt in seinem Werk eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den irrationalen Aspekten des menschlichen Daseins zum Ausdruck.
Seine philosophischen und wissenschaftlichen Wurzeln verleihen dem Roman eine besondere Tiefe. Die Erforschung des Innenlebens seiner Figuren, vor allem Castels, wird durch seine eigene intellektuelle Suche nach dem Sinn des Lebens beeinflusst. Sabato war bis zu seinem Tod 2011 ein angesehener Schriftsteller und oft im Gespräch für den Literaturnobelpreis.
Der existentialistische Kern des Romans
Sabatos Der Tunnel ist eindeutig ein Roman des Existentialismus. Castel ist die perfekte Verkörperung eines Menschen, der nach einem Sinn sucht, wo keiner zu finden ist. Seine verzweifelte Suche nach Bedeutung in seiner Beziehung zu María führt letztlich nur zu mehr Verwirrung und Schmerz. Sabato stellt dabei eindrucksvoll dar, wie die Suche nach Antworten in einer sinnlosen Welt zu destruktivem Verhalten führen kann.
Ein weiteres zentrales Thema des Romans ist die Unfähigkeit zur Kommunikation. Castel glaubt, dass nur María seine Kunst und damit auch ihn selbst verstehen kann. Doch diese Überzeugung ist eine Illusion, die sich schließlich in Gewalt entlädt. In einer Welt, in der Menschen voneinander entfremdet sind und echte Verbindungen selten sind, zeigt Sabato, wie fatal es sein kann, sich nur auf eine andere Person zu fixieren, um einen Sinn im Leben zu finden.
Fazit
Der Tunnel ist kein einfaches Buch, aber es ist ein unvergleichlich kraftvolles Werk, das den Leser nicht unberührt lässt. Sabato schafft es, die dunklen Abgründe der menschlichen Seele in einer Weise zu beleuchten, die gleichzeitig erschreckend und faszinierend ist. Castel ist ein Protagonist, den man vielleicht nicht mögen kann, aber dessen innere Zerrissenheit man verstehen und mitfühlen kann. Sabatos Roman ist eine tiefgründige Reflexion über Einsamkeit, Obsession und das Fehlen von Sinn im Leben – ein Muss für jeden, der sich für philosophische und psychologische Literatur interessiert.
Wer Romane von Albert Camus oder Jean-Paul Sartre schätzt, wird auch Der Tunnel lieben. Es ist ein Werk, das man nicht nur liest, sondern erlebt – und das einen noch lange nach der letzten Seite beschäftigt.