Der Stau: Es gibt kein Entkommen (Rowohlt)
Juni 2025
Der Stau: Es gibt kein Entkommen
Inhalt & persönliche Eindrücke
Ich habe Der Stau von Jo Furniss mit unbändiger Neugier in die Hand genommen – schon der erste Satz knallt und setzt den Ton: klaustrophobisch, eindringlich, unmittelbar. Belinda Kidd, eine Kommissarin kurz vor dem Ruhestand, steckt mit ihrem Wagen in einem kilometerlangen Stau auf dem Weg vom Flughafen in die Londoner Innenstadt fest. Eine Explosion im Tunnel hat den Verkehr zum Erliegen gebracht. Der kalte Schweiß steigt mir literarisch auf die Stirn, als Belinda ausgestiegen ist und eine Leiche entdeckt – direkt neben ihr, in einem anderen Fahrzeug, erstochen mit einem Metallspieß. Sofort wird klar: Der Mörder sitzt mit ihr im Stau. Dieses zentrale Spannungsmoment, diese unerbittliche Enge, zieht sich durch jede Seite des Buchs und fesselt mich so sehr, dass ich kaum Luft hole.
Das Setting ist genial einfach: eine Straße, parkende Autos, eingeschlossene Menschen und Emotionen auf Kipp. Genau diese Einfachheit macht den Locked‑Car‑Thriller so intensiv – kein Ortswechsel, keine Ablenkung, pure Spannung.
Aufbau & Tempo
Furniss strukturiert das Buch in kurze Kapitel, häufig weniger als fünf Seiten. Was zunächst ungewöhnlich wirkt, sorgt jedoch für Power: Jedes Kapitel endet mit einem Cliffhanger, einem Gedanken oder einer neuen Erkenntnis, die ungemein treibt. Diese Kapiteltechnik lässt mich wie im Rausch Seite um Seite verschlingen. Obwohl ich etwa 320 Seiten durchziehe, fühle ich mich wie in einem Actionfilm, bei dem die Kamera stumm von Szene zu Szene fährt.
Im letzten Drittel gewinnt die Handlung noch einmal zusätzlich an Druck: Die Ermittlungen im Stau vertiefen sich, falsche Verdächtigungen tauchen auf – und ich spüre, wie mein Herz schneller pocht. Die Gefahr, dass der Mörder durchbricht, sitzt permanent im Nacken.
Figuren & psychologische Tiefe
Belinda Kidd ist die zentrale Figur – ich nenne sie Billy. Sie wirkt wie eine erfahrene Ermittlerin mit Ecken und Kanten, ein Mensch mit Vergangenheit, die im Buch nur sparsam gestreift wird. Das ist angenehm: Furniss setzt nicht auf psychologischen Overkill, sondern auf radikale Reduktion. Billys Angst, ihr Pflichtbewusstsein, ihr Pragmatismus – all das ist direkt greifbar. Ich beginne, ihre Panik nachzuvollziehen, während ich selbst Angst vor jedem erneuten Gasstoß im Stau bekomme.
Rund um sie herum tummeln sich andere Fahrer: Eine Schwangere, ein Teenager mit Kopfhörern, ein Familienvater mit Kindersitzen. Die Perspektivwechsel auf diese Nebenfiguren, eingebettet in kurze Intermezzi, geben dem Stau Farbe, Leben – und Deutungsspielräume. Dennoch bleibt alles knapp und relevant, nichts wirkt wie Lückenfüller.
Sprache & Übersetzung
Sabine Schilasky hat exzellente Arbeit geleistet. Ihr Deutsch wirkt weder übersetzt noch gekünstelt – im Gegenteil: Alles liest sich geschmeidig, ohne Stilbrüche. Furniss’ reduzierter, prägnanter Stil bleibt erhalten. Gerade das sorgt dafür, dass jede Bedrohung, jedes Zögern, jede Wahrnehmung von Belinda nachhallt. Ich habe selten ein so dichtes, gleichzeitig aber sprachlich unaufdringliches Leseerlebnis gehabt.
Die Übersetzung ist modern, ohne angestaubte Thriller-Floskeln. Oft habe ich innerlich ein „Ja, genau so“ gefühlt, wenn Belinda die Rückspiegel checkt oder Autoscheiben ansieht. Das ist literarisch sauber umgesetzt.
Atmosphäre & Setting
Ein Stau ist normalerweise Alltag – hier wird er zur Hölle. Furniss spielt mit der menschlichen Angst, mit der Nähe zum Fremden und mit der Frage: Was passiert, wenn „wir“ zur Gefahr für uns selbst werden – oder wenn der Mörder neben uns sitzt. Dieses Setting wirkt ungewöhnlich, originell und direkt. Tatsächlich habe ich nach dem Lesen Reflexe entwickelt: Ein Piepsen im Stau, ein Hupen, eine Ahnung zitternder Scheiben – und schon bin ich wieder in Furniss’ Welt.
Der Tunnel, die Explosion, die eingeschlossenen Menschen: Alles wirkt real, plausible, fast dokumentarisch. Hier hat Furniss ihre journalistische Herkunft einfließen lassen.
Autorin – kurz vorgestellt
Jo Furniss war zehn Jahre lang bei der BBC tätig, bevor sie sich dem Schreiben von Romanen zuwandte. Sie ist nicht nur Thrillerautorin, sondern auch Podcastmacherin (z. B. Short History Of…, nominiert 2022 für den British Podcast Award), Journalistin und war in Singapur aktiv. Dort gründete sie einen Literaturblog namens SWAG. Derzeit lebt sie mit Familie und einem Pudel an der Südküste Englands.
Man merkt: Furniss schreibt journalistisch — klar, stringent, fast schnörkellos. Das passt perfekt zu dieser Art Thriller: minimalistische Ausstattung, maximale Wirkung.
Stärken & Highlights
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Konzept: Der Locked‑Car‑Thriller ist schlicht und genial. Kein unnötiger Schnickschnack, nur pure Spannung.
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Tempo: Wenige Seiten pro Kapitel, ständig steigende Nervosität – ich bin fast atemlos durch die letzten hundert Seiten gerast.
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Figurenmix: Die Nebenfiguren im Stau sorgen für Überraschungen und Verwirrung – wer weiß, wer hier Täter ist?
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Journalistischer Stil: Fakten, Wahrnehmung, Beobachtung – Furniss liefert ein klassisch gutes Storytelling.
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Atmosphäre: Panik, Druck, eingesperrt sein – jedes Detail sitzt. Ich habe mir nach dem Lesen mehrfach vorgestellt, wie es wohl wäre, selbst so festzusitzen.
Kleine Schwächen
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Figurentiefe: Belinda ist stark, aber nicht ultra-komplex. Hinter ihr stehen nur kleine Andeutungen – allerdings passt das zum One-Location-Plot. Tiefgehende Backstories hätten das Buch sprengen können.
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Vorhersehbarkeit in Details: Einige Insider-psychotricks des Täters wirken gewohnt – aber im Gesamtbild stillen sie den Thrill, daher vergebe ich keinen echten Punktabzug.
Cover & Gestaltung
Das Cover zeigt ein düsteres, vielleicht leicht rauchig wirkendes Stau-Motiv, dazu lässt sich der Titel in knalligem Weiß lesen – wirkt modern, professionell, aber nicht spektakulär. Es ist stimmig: Der visuelle Impuls reicht aus, um zu erkennen „Hier geht’s um Gefahr, Nähe, Dunkelheit“. Kein Hingucker, aber passend. Insgesamt solide.
Fazit
Der Stau: Es gibt kein Entkommen ist für mich ein literarischer Volltreffer. Simples, aber effektives Setting; knisternder Spannungsaufbau; Reduktion auf das Wesentliche; dazu eine intelligente, logisch-konstruierte Lösung – das alles ergibt einen modernen und originellen Thriller. Furniss zeigt, dass man nicht überall in Globalszenen reisen muss, um Intensität zu wecken. Eine Straße, eine Explosion, eine Leiche – und die schlimmste Angst: die Erkenntnis, dass der Mörder höchstwahrscheinlich in deinem unmittelbaren Umfeld sitzt.