Freak Sisters (Kulturmaschinen Verlag)
Juni 2024
Freak Sisters von Christine Sterly-Paulsen
Als ich das Buch „Freak Sisters“ in die Hand nahm, wusste ich nicht, was mich erwartet. Was wie eine einfache Geschichte über zwei Zwillingsschwestern klingt, entpuppte sich schnell als skurriles, tiefgründiges Abenteuer, das mich noch lange nach dem Lesen beschäftigt hat. Die Autorin Christine Sterly-Paulsen entführt uns in eine Welt, die so absurd und real zugleich ist, dass man sich ständig zwischen Lachen, Unbehagen und tiefer Nachdenklichkeit bewegt.
Eine ungewöhnliche Familiengeschichte
Judith und Rebecca, die beiden Protagonistinnen, wachsen in einem streng religiösen und emotional kalten Elternhaus auf. Schon von Anfang an wird klar, dass sie isoliert und fernab von normaler sozialer Interaktion aufwachsen. Statt in die Schule zu gehen, lernen sie Latein bei einem Hauslehrer, doch was ihnen wirklich fehlt, sind die Lektionen des Lebens selbst. Dieses Fundament der Isolation prägt die beiden Schwestern nachhaltig und bildet den Ausgangspunkt für ihre spätere Reise ins Ungewisse.
Mit fünfzehn Jahren beschließen sie, ihrem tristen Leben zu entfliehen, und träumen von einem Neuanfang in Rom. Doch anstatt in die Ewige Stadt zu gelangen, führt sie ihr Weg in ein abgelegenes Dorf in Portugal. Dort geraten sie in eine skurrile Kommune, die ihnen erstmals das Gefühl gibt, so akzeptiert zu werden, wie sie sind. Dieser Kontrast zwischen der Strenge ihres Elternhauses und der fast surrealen Freiheit der Kommune ist ein zentrales Thema des Buches.
Naivität als zentrales Element
Was mich an der Geschichte besonders faszinierte, war die ungesunde Naivität der Schwestern. Diese Naivität ist es, die sie in absurde und teils gefährliche Situationen bringt, aber gleichzeitig auch den roten Faden ihrer Selbstentdeckung bildet. Sterly-Paulsen schafft es, diese Naivität so darzustellen, dass man als Leser stets zwischen Mitgefühl und Kopfschütteln schwankt. Man fragt sich ständig, wie es möglich ist, dass sie mit ihrer Lebensweise so lange überleben.
Ihre Reise ist mehr als nur ein geographischer Ortswechsel – es ist eine Reise in ihre eigene Identität. Im Laufe des Romans sehen wir, wie Judith und Rebecca nicht nur die Welt um sich herum, sondern auch sich selbst neu entdecken. Das geschieht nicht durch große dramatische Ereignisse, sondern durch subtile Veränderungen, die durch ihre Interaktionen mit den anderen kauzigen Bewohnern der Kommune ausgelöst werden.
Ein Buch, das polarisiert
„Freak Sisters“ ist definitiv kein Wohlfühlroman. Der Stil von Christine Sterly-Paulsen ist direkt und manchmal fast schon verstörend ehrlich. Es gibt viele Momente im Buch, in denen man sich als Leser unwohl fühlt, weil die Autorin Themen wie Lieblosigkeit, Isolation und die Suche nach Zugehörigkeit schonungslos offenlegt. Das Buch zieht seine Kraft weniger aus einer spannungsgeladenen Handlung, sondern mehr aus den inneren Konflikten der Charaktere und der ungewöhnlichen Welt, die sie umgibt.
Was das Buch besonders lesenswert macht, ist der subtil-skurrile Humor, der sich immer wieder zwischen den Zeilen versteckt. Obwohl die Geschichte an vielen Stellen tragisch und bedrückend ist, schafft es Sterly-Paulsen, kleine Momente des Witzes und der Absurdität einzuflechten, die das Ganze auflockern und das Leseerlebnis zu einer einzigartigen Mischung aus Nachdenklichkeit und Unterhaltung machen.
Wer ist Christine Sterly-Paulsen?
Christine Sterly-Paulsen, Jahrgang 1970, bringt ihre eigenen Lebenserfahrungen in den Roman ein. Sie selbst wuchs in einem christlichen Haushalt auf, was man auch in „Freak Sisters“ deutlich spürt. Ihre Erfahrung mit Isolation und dem Kontrast zwischen religiöser Strenge und dem Wunsch nach persönlicher Freiheit sind klar in die Charaktere eingeflossen. Sterly-Paulsen ist nicht nur Romanautorin, sondern auch Ethnologin und Übersetzerin, was ihrem Werk eine gewisse Tiefe und Vielseitigkeit verleiht. Sie hat bereits mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht, darunter auch den dystopischen Roman „Gegenliebe“ und den Krimi „Abrechnung in Sagres“.
Fazit: Ein verstörendes, aber lohnenswertes Erlebnis
Am Ende des Buches bleibt man als Leser mit vielen Fragen zurück – und das ist genau das, was „Freak Sisters“ so besonders macht. Es ist kein Buch, das einfache Antworten liefert oder mit einem klaren Happy End aufwartet. Vielmehr regt es dazu an, über die Konzepte von Freiheit, Identität und Zugehörigkeit nachzudenken. Es ist eine Leseerfahrung, die sich nicht in erster Linie durch Spannung oder Romantik auszeichnet, sondern durch die intensive, manchmal verstörende Auseinandersetzung mit dem Menschsein.
Für Leser, die bereit sind, sich auf eine skurrile und tiefgründige Reise einzulassen, ist „Freak Sisters“ eine lohnenswerte Wahl.