6 Beerdigungen (Vergangenheitsverlag)
November 2024
6 Beerdigungen
In 6 Beerdigungen: Eine deutsche Familiengeschichte an den Gräbern erzählt gewährt Wilga Föste einen tiefen Einblick in die Verstrickungen ihrer eigenen Familie in die düsteren Kapitel der deutschen Geschichte. Die Autorin nutzt sechs Beerdigungen als narrative Ankerpunkte, um die Lebensgeschichten ihrer Vorfahren und deren Verbindungen zum Nationalsozialismus zu rekonstruieren. Mit ihrer sorgfältigen Recherche und ihrem präzisen Schreibstil gelingt es Föste, die Leser auf eine gleichermaßen persönliche wie historische Reise mitzunehmen, die nachdenklich stimmt und berührt.
Die Entdeckung eines dunklen Familiengeheimnisses
Der Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Moment, der vielen von uns vertraut vorkommen könnte: eine Beerdigung, die Raum für Erinnerungen und Gespräche bietet. Doch für Wilga Föste wird ein beiläufiger Kommentar bei der Trauerfeier zu einem Schlüsselerlebnis. Sie erfährt, dass ihr Großvater, den sie nie kennengelernt hat, bei der Gestapo tätig war. Diese Enthüllung wirft nicht nur Fragen über die Vergangenheit ihrer Familie auf, sondern auch über die Art und Weise, wie diese Schuld über Generationen hinweg verdrängt wurde. Föste entschließt sich, die Geschichte ihres Großvaters und anderer Familienmitglieder zu erforschen, die ebenfalls mit dem NS-Regime verstrickt waren.
Aufbau und Erzählstil
Die Struktur des Buches ist außergewöhnlich und gut durchdacht: Jede der sechs Beerdigungen dient als Einstieg in die Geschichten der jeweiligen Familienmitglieder. Die Beerdigungen sind nicht nur reale Ereignisse, sondern symbolisieren auch das Ende eines Kapitels, das gleichzeitig eine Möglichkeit zur Reflexion bietet. Föste nutzt diese Momente, um tief in die Vergangenheit einzutauchen und die Biografien ihrer Vorfahren zu entwirren.
Ihr Schreibstil ist klar, präzise und dennoch emotional. Sie schafft es, komplexe historische Zusammenhänge verständlich darzustellen, ohne dabei in trockene Sachbuchprosa zu verfallen. Stattdessen wird die Erzählung durch persönliche Anekdoten und Reflexionen bereichert, die das Buch trotz seines ernsten Themas lebendig machen.
Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung
Ein zentrales Thema des Buches ist die Frage nach Schuld und Verantwortung. Föste beleuchtet, wie der Nationalsozialismus nicht nur die großen Akteure wie Hitler oder Himmler prägte, sondern auch den sogenannten „namenlosen Mittelbau“. Ihre Recherchen zeigen, dass ihre Vorfahren nicht nur Mitläufer waren, sondern aktiv am Regime mitwirkten. Die Darstellung dieser Verstrickungen ist schonungslos, aber nie reißerisch.
Besonders beeindruckend ist, wie Föste die Auswirkungen dieser Vergangenheit auf die nachfolgenden Generationen beschreibt. Sie zeigt, wie das Schweigen über die NS-Zeit in der Familie das Leben ihrer Eltern und ihr eigenes geprägt hat. Dieses Schweigen wird zum Symbol für die Verdrängung, die in vielen deutschen Familien dieser Zeit alltäglich war.
Historische Relevanz und Zielgruppe
6 Beerdigungen ist mehr als eine Familiengeschichte – es ist ein wichtiges Werk zur deutschen Erinnerungskultur. Es richtet sich an Leser, die die Geschichte des Nationalsozialismus nicht nur aus einer distanzierten Perspektive betrachten möchten, sondern verstehen wollen, wie tief die Ideologie des Regimes in der Gesellschaft verankert war. Föste zeigt, dass die Geschichte des Nationalsozialismus nicht nur die Geschichte der Täter und Opfer ist, sondern auch die derjenigen, die oft übersehen werden: die vielen „ganz normalen Menschen“, die das Regime unterstützt oder zumindest stillschweigend akzeptiert haben.
Über die Autorin
Wilga Föste, geboren 1969, ist Ökonomin und Autorin. Nach ihrem Studium und ihrer Promotion in Volkswirtschaftslehre war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für Ordnungspolitik tätig. Heute arbeitet sie freiberuflich und hat neben ökonomischen Fachbüchern auch dieses sehr persönliche Werk verfasst. Föste zeigt sich als eine Autorin, die sowohl in der Lage ist, analytisch zu schreiben, als auch persönliche Einblicke zu gewähren. Mit 6 Beerdigungen verbindet sie ihre analytischen Fähigkeiten mit einer emotionalen Tiefe, die das Buch zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis macht.
Meine persönliche Erfahrung mit dem Buch
Beim Lesen von 6 Beerdigungen wurde mir bewusst, wie sehr die Vergangenheit auch heute noch in unseren Familien präsent ist, oft jedoch verborgen bleibt. Föste hat mich mit ihrer Offenheit und ihrem Mut beeindruckt, sich diesem schwierigen Thema zu stellen. Besonders berührend fand ich die Passagen, in denen sie die persönlichen Folgen des Schweigens und der Verdrängung schildert. Es war nicht immer einfach, diese Geschichten zu lesen, aber es hat mich tief bewegt und zum Nachdenken angeregt.
Fazit
Wilga Föste gelingt es, mit 6 Beerdigungen ein persönliches und zugleich historisch bedeutsames Buch zu schaffen. Es regt zur Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte an und zeigt, wie wichtig es ist, sich der Vergangenheit zu stellen. Dieses Buch ist ein wertvoller Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur und sollte von jedem gelesen werden, der sich für die Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft interessiert.