Wenn wir wieder Menschen sind (Zytglogge Verlag)
September 2024
Wenn wir wieder Menschen sind“ von Tanja Miljanović
Als ich „Wenn wir wieder Menschen sind“ von Tanja Miljanović in die Hand nahm, war mir klar, dass mich eine emotionale Reise erwartet. Was ich jedoch nicht voraussehen konnte, war die Tiefe der Gefühle und die unmittelbare Nähe zu den schmerzhaften Erinnerungen eines Kindes im Krieg, die mich während des Lesens überwältigten. Miljanović schafft es auf eindringliche Weise, die Erfahrungen einer jungen Tanja im Bosnienkrieg 1992 in Worte zu fassen und dabei das kollektive Trauma einer Generation aufzuzeigen.
Einblicke in das Kriegsgebeutelte Bosnien
Der Roman beginnt mit der zehnjährigen Tanja, die miterlebt, wie ihr Heimatland Bosnien in den Wirren des Krieges versinkt. Die detaillierte Schilderung der Flucht ihrer Familie, als die Mutter die Kinder wie Koffer ins Auto packt, vermittelt eine beklemmende Intensität. Während Granaten im Hintergrund detonieren und das Lachen von Onkel Marko in den Bergen verhallt, ist es das kindliche Beobachten und Verstehen der Protagonistin, das dem Leser die Brutalität des Krieges auf eindringliche Weise näher bringt. Miljanović zeigt, wie der Krieg nicht nur physische Orte zerstört, sondern auch die Seelen der Menschen.
Das Aufeinandertreffen von Zerstörung und kindlicher Naivität ist ein wiederkehrendes Motiv im Roman, das mich immer wieder innehalten ließ. Tanja versucht inmitten des Chaos, einen Sinn in die Absurdität der Kriegsrealität zu zaubern. Die Mutter wird zur Säule der Familie, während Onkel Marko, der mit einem Gewehr in die Berge zieht, das Sinnbild für die zerbrochenen Männer dieser Zeit darstellt.
Die Suche nach Verlorenem in der sicheren Schweiz
Was „Wenn wir wieder Menschen sind“ besonders macht, ist der Wechsel zwischen Tanjas Kindheitserinnerungen und den Reflexionen der erwachsenen Tanja, die in der sicheren Schweiz lebt. Hier entdeckt sie vergessene Details ihrer Vergangenheit und fühlt den Schmerz, der nie wirklich abgeklungen ist. Miljanović porträtiert eindrucksvoll, wie die Wunden des Krieges auch Jahrzehnte später das Leben prägen. Die ständigen Rückblicke auf verlorene Orte und Menschen verdeutlichen, dass die Heimat, die Tanja kannte, unwiederbringlich verschwunden ist.
Der Umgang mit Schuld und Wut spielt im späteren Verlauf des Buches eine zentrale Rolle. Tanja muss sich den emotionalen Narben stellen, die der Krieg hinterlassen hat, während sie in einem sicheren Land lebt. Der Kontrast zwischen ihrer neuen Heimat und dem Bosnien, das sie zurücklassen musste, wird in der Erzählung immer wieder betont. Als Leserin konnte ich förmlich spüren, wie die Diskrepanz zwischen Sicherheit und Zerstörung sie innerlich zerreißt.
Authentische Erzählweise und literarische Stärke
Miljanović’ Stil besticht durch eine poetische Klarheit, die oft mit bitteren Wahrheiten kontrastiert. Ihre Erzählung ist geprägt von bildhafter Sprache und einer tiefen Emotionalität, die nie in Sentimentalität abrutscht. Besonders beeindruckend ist die Art und Weise, wie sie die Perspektive des Kindes beibehält, ohne die Schwere der Thematik zu verlieren. Gleichzeitig spiegelt der Roman aber auch die Reife und Weisheit der erwachsenen Erzählerin wider, die versucht, die Puzzleteile ihrer Vergangenheit zusammenzusetzen.
Die erzählerische Brillanz liegt auch darin, wie Miljanović es schafft, persönliche Erlebnisse mit universellen Themen wie Flucht, Verlust und Identität zu verweben. Obwohl das Buch stark autobiografische Züge trägt, wird es zu einer Geschichte, mit der sich viele Menschen, die Gewalt und Zerstörung erlebt haben, identifizieren können.
Über die Autorin
Tanja Miljanović wurde 1983 in Tuzla, Bosnien-Herzegowina, geboren und lebt heute in der Schweiz, wo sie als Historikerin und Stadträtin in Bern tätig ist. Ihre eigenen Erfahrungen während des Bosnienkriegs fließen in ihre literarischen Arbeiten ein und machen ihre Bücher zu kraftvollen Zeugnissen eines unvergessenen Kapitels europäischer Geschichte. In „Wenn wir wieder Menschen sind“ vereint sie ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Konflikten und ihre literarische Begabung, um den Leser in eine Welt voller Erinnerungen, Traumata und auch Hoffnung zu entführen.
Fazit: Ein Roman, der unter die Haut geht
„Wenn wir wieder Menschen sind“ ist mehr als nur ein Kriegsroman. Es ist eine Reise in die tiefsten emotionalen Abgründe einer Frau, die mit den Schatten ihrer Vergangenheit lebt und dennoch versucht, in der Gegenwart Halt zu finden. Miljanović gelingt es, die Schrecken des Krieges auf eine Weise zu schildern, die sowohl verstörend als auch zutiefst menschlich ist. Wer dieses Buch liest, wird es so schnell nicht vergessen.