Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre (dtV Verlag)
September 2024
Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre
Als ich Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre von Monika Zeiner aufschlug, war ich sofort fasziniert von der Tiefe und Komplexität dieses Familienromans. Zeiner, die bereits mit ihrem Debütroman Die Ordnung der Sterne über Como große Aufmerksamkeit erlangte, präsentiert uns hier ein Werk, das nicht nur die Geschichte einer Familie erzählt, sondern gleichzeitig auch die Geschichte Deutschlands von der Kaiserzeit bis in die Gegenwart widerspiegelt. Dies schafft sie in einem unglaublich dichten, emotional aufgeladenen Erzählstil, der den Leser von Anfang an in seinen Bann zieht.
Die Handlung: Rückkehr in die Vergangenheit
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Nikolas Finck, der nach langer Abwesenheit in sein Elternhaus bei Nürnberg zurückkehrt. Die Rückkehr, die ursprünglich nur ein Wochenende dauern sollte, dehnt sich auf ein Jahr aus, in dem er sich in der Dachkammer der Villa Sternbald niederlässt. Von dort aus beginnt er, tief in die Vergangenheit seiner Familie einzutauchen und lang verdrängte Geheimnisse zu lüften. Dabei erinnert mich Nikolas stark an eine Figur, die nicht nur mit ihrer eigenen Vergangenheit hadert, sondern auch versucht, die Fehler seiner Vorfahren zu verstehen und zu verarbeiten. Diese Beschäftigung mit der Vergangenheit, insbesondere im Kontext der Erziehung und Kindheit, verleiht der Handlung eine ungeheure emotionale Tiefe.
Die Themen der Kindheit und Erziehung ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman. Nikolas‘ Erinnerungen an seine eigene Kindheit und die ersten Lieben, aber auch die Erfindung der Columba-Schulbank, die als Symbol für den Wandel der Erziehungsmethoden dient, sind zentrale Elemente. Der Roman zeigt, wie stark die Vergangenheit und die Entscheidungen der Vorfahren das Leben der Nachgeborenen beeinflussen.
Zeiners Stil: Dicht, poetisch und präzise
Monika Zeiner gelingt es, komplexe Themen in einer wunderbaren sprachlichen Form zu verpacken. Die Autorin hat Romanistik studiert und sich intensiv mit Liebesmelancholie befasst, was man ihrem Schreibstil anmerkt. In Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre nutzt sie eine Mischung aus dichter, poetischer Sprache und präzisen Beobachtungen, die das Geschehen lebendig und gleichzeitig nachdenklich machen. Man spürt, dass Zeiner auch als Musikerin tätig war, da ihre Sprache oft einen fast musikalischen Rhythmus hat. Die Art, wie sie die deutsche Geschichte mit persönlichen Schicksalen verwebt, erinnert an die Melodie eines alten Liedes, das immer wieder neu interpretiert wird.
Besonders beeindruckend ist Zeiners Fähigkeit, die verschiedenen Zeitebenen miteinander zu verknüpfen. Historische Ereignisse, die das Leben der Familie Finck prägten, werden nahtlos in die persönliche Geschichte des Protagonisten eingebunden. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Bild, das die Entwicklung Deutschlands auf eine sehr menschliche, intime Weise darstellt. Man fühlt sich, als würde man nicht nur die Geschichte einer Familie lesen, sondern die gesamte deutsche Geschichte in komprimierter Form erleben.
Die Figuren: Lebendig und vielschichtig
Nikolas Finck ist eine komplexe Figur, die sowohl mit seiner eigenen Identität als auch mit dem Erbe seiner Familie ringt. Er ist auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die ihm niemand stellen kann, und doch gibt er nicht auf. Während des Lesens habe ich oft mit ihm mitgefühlt – sein innerer Konflikt zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist etwas, das viele Menschen nachvollziehen können.
Auch die Nebenfiguren sind brillant gestaltet. Da ist zum Beispiel Jean, ein melancholischer Insektenforscher, der mit seinen eigenen Träumen und Enttäuschungen zu kämpfen hat, oder Edith, eine geheimnisvolle Figur, die in Nikolas‘ Leben eine wichtige Rolle spielt. Diese Figuren tragen nicht nur zur Komplexität der Handlung bei, sondern lassen die Geschichte auch besonders lebendig wirken. Ihre Beziehungen zueinander sind vielschichtig und von tiefer Bedeutung, was dem Roman zusätzliche Spannung verleiht.
Über die Autorin: Monika Zeiner
Monika Zeiner, geboren 1971, studierte Romanistik und Theaterwissenschaften in Berlin. Ihr Debütroman Die Ordnung der Sterne über Como wurde 2013 mit dem Publikumspreis der lit.COLOGNE ausgezeichnet und stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zeiner hat sich durch ihre klare, aber gleichzeitig poetische Sprache einen Namen gemacht und beeindruckt mit ihrer Fähigkeit, komplexe emotionale und historische Zusammenhänge in ihren Geschichten zu verarbeiten. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit war sie auch Mitglied der Band marinafon und arbeitete als Musikerin. Mit Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre präsentiert sie nun nach elf Jahren ihren zweiten Roman – und es hat sich gelohnt, so lange zu warten.
Fazit: Ein intensiver Roman über Familie und Geschichte
Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre ist ein tiefgründiger, intensiver Roman, der uns auf eine Reise durch die deutsche Geschichte mitnimmt und uns gleichzeitig zeigt, wie stark die Vergangenheit unser Leben prägt. Monika Zeiner beweist hier erneut ihre Fähigkeit, komplexe Themen in eine zugängliche, gleichzeitig aber sehr poetische Sprache zu kleiden. Wer sich für Familiengeschichten interessiert, die gleichzeitig auch historische und gesellschaftliche Themen aufgreifen, sollte diesen Roman unbedingt lesen. Es ist ein Werk, das nachhallt und einen noch lange nach dem Lesen beschäftigt.