Verrückt normal (Christoph Merian Verlag)
September 2024
Verrückt normal – Geschichte der Psychiatrie in Basel
Das Buch Verrückt normal – Geschichte der Psychiatrie in Basel aus dem Christoph Merian Verlag bietet einen faszinierenden Einblick in 150 Jahre Psychiatriegeschichte in der Stadt Basel. Die Herausgeber Gudrun Piller und Daniel Suter haben mit dieser Publikation ein umfassendes Werk geschaffen, das nicht nur historische Entwicklungen der Psychiatrie aufzeigt, sondern auch menschliche Schicksale beleuchtet, die hinter den Klinikmauern verborgen lagen.
Das Buch ist weit mehr als eine bloße historische Abhandlung – es schafft es, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Medizin, Gesellschaft und dem individuellen Leiden aufzugreifen. Die Fallgeschichten, die anonymisiert und aus alten Krankenakten entnommen wurden, zeigen deutlich, wie sich der Umgang mit psychischen Krankheiten im Laufe der Zeit verändert hat. Besonders eindrucksvoll fand ich die Schilderungen über die Anwendung der Malariatherapie zur Behandlung der Progressiven Paralyse, eine Erkrankung infolge von Syphilis, bei der Patienten bewusst mit Malaria infiziert wurden, um Fieberschübe auszulösen. Solche Behandlungsansätze wirken heute grotesk, waren jedoch damals gängige Praxis.
Die visuelle Untermalung
Eine der großen Stärken des Buches liegt in seiner visuellen Aufbereitung. Mit über 100 Abbildungen, darunter viele historische Fotografien und Dokumente, wird die Vergangenheit lebendig gemacht. Diese Illustrationen ermöglichen es dem Leser, einen noch tieferen Einblick in die medizinischen Praktiken und das Alltagsleben in den Psychiatrieeinrichtungen zu erhalten. Besonders beeindruckt hat mich die Vielfalt der gezeigten Objekte aus der Sammlung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, die das Buch anschaulich und greifbar macht.
Die thematische Vielfalt reicht von der Pflege psychisch Kranker über die Einführung moderner Psychopharmaka bis hin zur Entwicklung diagnostischer Verfahren. Anhand von zwanzig historischen Objekten aus der Basler Klinik wird zudem die materielle Seite der Psychiatriegeschichte beleuchtet – von Schutzhandschuhen, die zur Fixierung von Patienten verwendet wurden, bis hin zu Badewannen aus der Friedmatt-Klinik, die als Teil der damaligen Therapieansätze galten.
Wandel der Psychiatrie und ethische Fragen
Besonders gut gelingt es den Herausgebern, den stetigen Wandel in der Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen darzustellen. Was früher als wissenschaftlich fundiert galt, erscheint heute oft fragwürdig oder gar unmenschlich. Diese historische Perspektive regt dazu an, über die aktuellen Praktiken der Psychiatrie nachzudenken. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen: Welche Psychiatrie wollen wir heute?
Ein herausragender Teil des Buches ist der ergänzende Essay, der sich mit den Grundfragen und Herausforderungen der modernen Psychiatrie auseinandersetzt. Dieser Abschnitt, verfasst von einem erfahrenen Psychiater, bietet wertvolle Einsichten in die ethischen Dilemmata, die sich auch heute noch im psychiatrischen Alltag stellen.
Die Herausgeber
Gudrun Piller und Daniel Suter, beide renommierte Historiker, haben mit diesem Werk einen wichtigen Beitrag zur regionalen und überregionalen Medizingeschichte geleistet. Piller ist bekannt für ihre Expertise in der Geschichte der Psychiatrie und hat bereits in mehreren Projekten zu diesem Thema gearbeitet. Suter bringt seine umfangreichen Erfahrungen als Archivar des Historischen Museums Basel ein, was sich besonders in der detailreichen Darstellung der Basler Klinikgeschichte widerspiegelt.
Fazit: Ein unverzichtbares Werk für Geschichtsinteressierte
Verrückt normal ist ein Buch, das tief in die Geschichte der Psychiatrie eintaucht und dabei auch unbequeme Wahrheiten ans Licht bringt. Es ist ideal für all jene, die sich für Medizingeschichte, Psychiatrie oder die Stadt Basel interessieren. Die Kombination aus fundierten Texten, spannenden Fallgeschichten und eindrucksvollen Abbildungen macht es zu einem einzigartigen Leseerlebnis.
Die Mischung aus historischen Fakten und persönlichen Schicksalen, die sowohl auf medizinischer als auch gesellschaftlicher Ebene behandelt werden, sorgt dafür, dass das Buch auch lange nach dem Lesen im Gedächtnis bleibt. Wer einen tiefen Einblick in die Entwicklung der Psychiatrie und ihre Auswirkungen auf die Menschen in Basel gewinnen möchte, sollte dieses Buch unbedingt lesen.