Selbstporträts: Expressionismus 20 (Neofelis)
November 2024
Selbstporträts: Expressionismus 20
„Selbstporträts: Expressionismus 20“, herausgegeben von Kristin Eichhorn und Johannes S. Lorenzen, widmet sich einem faszinierenden und vielschichtigen Thema: der Selbstdarstellung von Künstlerinnen im Expressionismus. Das Buch beleuchtet nicht nur die klassische Malerei, sondern zieht auch Verbindungen zur Literatur, Fotografie und sogar zur Psychoanalyse. Selbstporträts waren für die Künstlerinnen dieser Epoche ein Weg, ihre Identität zu hinterfragen, gesellschaftliche Konventionen zu durchbrechen und tief in ihr eigenes Inneres zu blicken. Dieses Buch hat mich vom ersten Moment an gefesselt, da es einen umfassenden Einblick in die Welt der expressionistischen Selbstporträts bietet und dabei sowohl kunsthistorische als auch gesellschaftliche Kontexte berücksichtigt.
Inhaltliche Schwerpunkte
Der Band gliedert sich in mehrere thematische Kapitel, die das Selbstporträt aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Besonders beeindruckend ist die Vielseitigkeit der Ansätze, mit denen die Herausgeber und Autor*innen das Thema beleuchten. Dabei wird immer wieder deutlich, dass Selbstporträts im Expressionismus weit mehr waren als bloße Abbildungen des Äußeren. Sie sind intime Reflexionen, tiefgreifende psychologische Studien und oft auch provokative politische Statements.
Ein Schwerpunkt liegt auf den Werken von Egon Schiele, der sich in seinen Selbstporträts oft in ungewöhnlichen Posen und mit radikalem Minimalismus darstellt. Schieles Werke sind zutiefst verstörend und gleichzeitig faszinierend, da sie nicht nur sein äußeres Erscheinungsbild, sondern auch seine inneren Konflikte und seine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Tabus zeigen. Seine provokativen Darstellungen haben die Kunstwelt nachhaltig beeinflusst, und die Essays in diesem Buch verdeutlichen, warum.
Ein weiteres Highlight ist die Analyse der Werke von Käthe Kollwitz, deren Selbstporträts oft eine intensive Auseinandersetzung mit sozialen Themen zeigen. Kollwitz nutzte ihre Kunst, um auf soziale Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, und ihre Selbstporträts spiegeln diesen Ansatz wider. Diese Abschnitte des Buches verdeutlichen, wie eng persönliche und gesellschaftliche Reflexionen im Expressionismus miteinander verbunden sind.
Neue mediale Möglichkeiten
Besonders spannend finde ich die Kapitel, die sich mit den neuen Möglichkeiten der Selbstinszenierung durch die Fotografie beschäftigen. Während die Malerei die vorherrschende Kunstform des Expressionismus war, nutzten viele Künstler*innen die Fotografie, um ihre künstlerische Identität auf neue und innovative Weise auszudrücken. Die Fotografie erlaubte es ihnen, spontane und unkonventionelle Bilder von sich selbst zu schaffen, die oft intimer und ehrlicher wirken als gemalte Porträts.
Ein besonders bemerkenswerter Abschnitt beschäftigt sich mit dem Einfluss der Fotografie auf die Kunst von Ernst Ludwig Kirchner. Kirchner nutzte die Kamera, um spontane und oft ungewöhnliche Selbstporträts zu erstellen, die seine malerischen Werke beeinflussten. Diese Kapitel zeigen eindrucksvoll, wie verschiedene Medien einander beeinflussen und bereichern können.
Psychoanalytische Perspektiven
Ein weiterer faszinierender Aspekt des Buches ist die psychoanalytische Perspektive auf die Selbstporträts. Der Einfluss von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung auf die Künstler*innen des Expressionismus ist in vielen Werken unverkennbar. Das Buch beleuchtet, wie die Konzepte von Verdrängung, Traumdeutung und Sexualität in den Selbstporträts verarbeitet werden. Diese Analysen gehen weit über eine rein ästhetische Betrachtung hinaus und eröffnen tiefere Einblicke in die psychologischen Mechanismen, die in den Werken zum Ausdruck kommen.
Besonders interessant ist die Auseinandersetzung mit Selbstporträts, die Traumata oder psychologische Konflikte thematisieren. Viele der Künstler*innen nutzten ihre Werke, um innere Kämpfe und Ängste zu verarbeiten, was den Ausdruck des Expressionismus noch intensiver und persönlicher macht. Diese Kapitel regen dazu an, Kunst nicht nur als ästhetisches, sondern auch als psychologisches Phänomen zu betrachten.
Gesellschaftlicher Kontext
Das Buch verbindet die individuelle Ebene der Künstlerinnen geschickt mit dem gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit. Es wird deutlich, dass die Kunst des Expressionismus nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern tief in den politischen und sozialen Umbrüchen des frühen 20. Jahrhunderts verwurzelt ist. Die Essays zeigen, wie Künstlerinnen wie Oskar Kokoschka oder Paula Modersohn-Becker ihre Werke nutzten, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen oder gegen die Konventionen ihrer Zeit zu rebellieren.
Diese Verknüpfung von persönlicher und gesellschaftlicher Reflexion macht das Buch für mich besonders wertvoll. Es zeigt, dass Kunst nie losgelöst von ihrem kulturellen und historischen Kontext existiert und dass die Selbstporträts des Expressionismus auch heute noch relevante Fragen aufwerfen.
Über die Herausgeber
Kristin Eichhorn ist eine ausgewiesene Expertin im Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaft. Sie hat sich intensiv mit dem Expressionismus auseinandergesetzt und zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Bücher zu diesem Thema veröffentlicht. Johannes S. Lorenzen ergänzt diesen Hintergrund durch seine Expertise in der Kunstgeschichte. Gemeinsam gelingt es ihnen, ein Buch zu schaffen, das sowohl fundiert als auch zugänglich ist. Ihre Einführung und die sorgfältige Auswahl der Essays machen „Selbstporträts: Expressionismus 20“ zu einem herausragenden Werk, das sowohl Fachleute als auch interessierte Laien anspricht.
Fazit
„Selbstporträts: Expressionismus 20“ ist ein Buch, das mich auf vielen Ebenen inspiriert hat. Es bietet nicht nur eine tiefgehende Analyse der Selbstporträts, sondern auch einen umfassenden Überblick über die künstlerischen, gesellschaftlichen und psychologischen Dimensionen des Expressionismus. Die Kombination aus wissenschaftlicher Fundierung und zugänglicher Sprache macht es zu einem Muss für alle, die sich für Kunst, Geschichte und die menschliche Psyche interessieren. Für mich ist dieses Buch weit mehr als nur eine kunsthistorische Analyse – es ist eine Einladung, die eigene Perspektive auf Kunst und Identität zu hinterfragen.