Sehnsucht nach der Wüste (KLAK Verlag)
Juni 2024
Sehnsucht nach der Wüste
„Sehnsucht nach der Wüste“ von Carolina Brown, übersetzt von Laura Haber und herausgegeben vom KLAK Verlag, ist ein eindrucksvoller Roman, der uns in die faszinierende und karge Landschaft der Atacamawüste in Chile führt. Die Geschichte erzählt nicht nur vom geografischen Schauplatz, sondern auch von einer emotionalen Reise durch das Leben und die Geheimnisse einer Familie, die über Generationen hinweg Geheimnisse bewahrt. Dieser Roman weckt eine tiefe Sehnsucht, in die Vergangenheit und die eigene Identität einzutauchen, um den Weg in die Zukunft zu ebnen. Durch Browns feinfühlige Erzählweise und Habers präzise Übersetzung wird das Buch zu einem Erlebnis für alle Sinne.
Handlung und Struktur
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Rebeca, eine junge Frau, die die letzten Wünsche ihrer Großtante Peggy erfüllen soll. Peggy, die ihren Lebensabend in England verbracht hat, möchte, dass ihre Asche in einer alten Salpetersiedlung in der Atacamawüste verstreut wird. Diesem Wunsch nachzukommen, bedeutet für Rebeca jedoch mehr als nur eine Reise in die Vergangenheit – es bedeutet eine Reise zu den Wurzeln ihrer eigenen Familie, zu längst vergessenen Geschichten und verdrängten Erinnerungen. Rebeca stößt dabei auf eine schmerzhafte Geschichte, die von Verlust, Geheimnissen und Entbehrungen geprägt ist.
Die Handlung entfaltet sich in zwei Zeitebenen: Während wir Rebecas heutige Reise in die Wüste begleiten, blicken wir gleichzeitig zurück auf die Geschichte ihrer Großtante Peggy und deren Freundin Dora. Beide Frauen lebten zur Zeit des Salpeterbooms in Chile und waren unmittelbar von den wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen dieser Zeit betroffen. Durch alte Briefe und Dokumente wird Stück für Stück ein faszinierendes Bild dieser Epoche gezeichnet, das nicht nur für Rebeca, sondern auch für die Leserinnen und Leser aufschlussreich und bewegend ist.
Themen und Motive
Eines der Hauptthemen des Buches ist die Frage nach Identität und den eigenen Wurzeln. Rebeca, die selbst nach Antworten auf die ungelösten Fragen ihrer Kindheit sucht, begegnet ihrer Vergangenheit durch die Geschichten anderer. Dabei stellt die Atacamawüste nicht nur einen physischen Ort dar, sondern symbolisiert die innere Wüste und Sehnsucht nach Klarheit und Erfüllung, die Rebeca und andere Familienmitglieder verspüren. Die Wüste wird zum Sinnbild für die emotionale Leere, die durch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit gefüllt werden kann. Daneben behandelt der Roman Themen wie die Vergänglichkeit von Kultur und der Identität, das Vergessen und die Konfrontation mit familiären Schattenseiten.
Ein weiteres zentrales Motiv ist der Verlust. Sei es der Verlust geliebter Menschen, wie Rebecas Mutter, die auf mysteriöse Weise verschwunden ist, oder der Verlust eines Lebensstils und der gesellschaftlichen Strukturen, die mit dem Ende der Salpeterindustrie verschwanden. Diese Thematik verleiht der Geschichte eine Tiefe, die lange nachhallt und den Leser dazu anregt, sich mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen.
Schreibstil und Sprache
Carolina Browns Erzählweise ist geprägt von einer dichten Atmosphäre und poetischen Beschreibungen. Ihre Worte sind so gewählt, dass man die karge Landschaft der Atacamawüste regelrecht vor sich sieht. Sie fängt die Stille und die endlose Weite ein und lässt den Leser die Einsamkeit und Erhabenheit dieser Landschaft spüren. Laura Habers Übersetzung trägt dazu bei, diesen Stil zu bewahren und die emotionale Tiefe des Originals zu transportieren. Die Sprache ist dabei klar und eindringlich, wodurch das Buch sowohl eine emotionale Nähe schafft als auch intellektuell anspricht.
Charakterentwicklung
Die Charaktere in „Sehnsucht nach der Wüste“ sind vielschichtig und fein ausgearbeitet. Rebeca ist eine glaubwürdige Figur, deren innerer Konflikt und Suche nach Identität nachvollziehbar und bewegend ist. Ihr Weg, die Geheimnisse der Familie zu enthüllen, spiegelt zugleich den Wunsch vieler Menschen wider, zu ihren Wurzeln zurückzufinden. Auch die Nebencharaktere, wie Peggy und Dora, sind komplexe Figuren, die in der Rückschau auf ihr Leben und die gesellschaftlichen Umstände, in denen sie lebten, an Tiefe gewinnen. Besonders Peggys Geschichte und ihre Freundschaft zu Dora offenbaren die schwierigen Lebensbedingungen und persönlichen Kämpfe, die viele Frauen jener Zeit durchlebten.
Historischer Kontext
Der historische Hintergrund des Salpeterbooms und seines Niedergangs ist ein faszinierendes Element des Buches. Die Salpeterindustrie prägte die chilenische Wirtschaft und Gesellschaft maßgeblich, und ihr Verschwinden hinterließ eine tiefe Lücke in den Leben vieler Menschen. Carolina Brown hat diesen Aspekt geschickt in die Erzählung eingeflochten, sodass die historischen Details nie belehrend wirken, sondern organisch in die Handlung eingebettet sind. Dadurch bietet der Roman einen Einblick in eine wenig bekannte Facette der chilenischen Geschichte und lässt die Vergangenheit lebendig werden.
Über die Autorin
Carolina Brown wurde 1984 in Santiago de Chile geboren und lebt heute in Berlin. Mit einem Masterabschluss im Kreativen Schreiben von der Universitat Pompeu Fabra in Barcelona ist sie eine Autorin, die die lateinamerikanische Kultur und Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Werke stellt. Ihre Romane und Kurzgeschichten sind in verschiedenen Ländern erschienen und befassen sich oft mit der chilenischen Gesellschaft und deren Vergangenheit. In „Sehnsucht nach der Wüste“ zeigt sie ihre Gabe, historische und kulturelle Elemente zu einer tiefgründigen und packenden Erzählung zu verweben.
Fazit
„Sehnsucht nach der Wüste“ ist ein außergewöhnliches Buch, das historische und emotionale Tiefe vereint und die Leserinnen und Leser mit einer einzigartigen Geschichte in den Bann zieht. Carolina Brown gelingt es, durch ihre Figuren und die eindringliche Schilderung der Landschaft der Atacamawüste eine fesselnde und poetische Atmosphäre zu schaffen. Die Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart, aus persönlicher Suche und historischem Kontext, macht diesen Roman zu einem unverzichtbaren Werk für Liebhaber von Familiengeschichten mit kulturellem Hintergrund.