Schnee, Beton (Gmeiner Verlag)
Oktober 2024
Schnee, Beton von Marcus Wichmann
Wenn ein Buch mich auf den ersten Seiten direkt in die Welt seines Protagonisten zieht, dann weiß ich, dass ich es kaum mehr aus der Hand legen kann. Genau das ist bei Schnee, Beton von Marcus Wichmann der Fall. Der Roman erzählt die Geschichte von Julian Seitz, einem Architekten in Hamburg, der äußerlich ein erfolgreiches Leben führt, innerlich jedoch zunehmend ins Wanken gerät.
Ein Architekt auf der Suche nach sich selbst
Julian lebt für seinen Beruf. Der Bau eines neuen Bankgebäudes in Frankfurt am Main ist sein größter beruflicher Traum, doch während der Arbeit an diesem Projekt beginnt er, sich selbst und seine bisherigen Entscheidungen in Frage zu stellen. Besonders spannend finde ich, wie Wichmann Julians beruflichen Erfolg mit seinen inneren Konflikten verwebt. Da ist zum Beispiel die Beziehung zu seiner zwölfjährigen Tochter Mia, die bei ihrer Mutter Maren lebt. Obwohl Julian seine Tochter liebt, spürt man die Distanz zwischen den beiden. Diese Balance zwischen beruflichem Ehrgeiz und familiären Verpflichtungen zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman.
Wichmanns präzise und reflektierte Sprache
Wichmann schafft es, in einer klaren, manchmal fast nüchternen Sprache, die inneren Kämpfe seiner Figuren darzustellen. Der Satz, der sich durch den ganzen Roman zieht, stammt von einem Professor aus Julians Studienzeit: „Beton hat eine Seele aus Wasser.“ Julian empfindet diesen Satz als kitschig, aber er wird zu einem Leitmotiv in seinem Leben. Diese Reflektion über Beton als widerstandsfähiges, aber auch flexibles Material spiegelt Julians eigene Zerbrechlichkeit und den Versuch, sich an seine Lebensumstände anzupassen, perfekt wider.
Besonders beeindruckt hat mich, wie es dem Autor gelingt, große Emotionen – Verlust, Angst, aber auch die kleinen Lügen des Alltags – so unaufgeregt und doch intensiv darzustellen. In den leisen Momenten des Buches liegt die größte Kraft.
Liebe und Lügen in einer grauen Welt
Das Thema der Lüge zieht sich ebenfalls durch das Buch. Ob es die kleinen Unwahrheiten sind, die Julian gegenüber sich selbst hegt, oder die Lügen, die in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen auftauchen – sie alle prägen sein Leben und bestimmen seine Entscheidungen. Besonders die Beziehung zu seiner Ex-Partnerin Maren und Tochter Mia zeigt, wie schwer es für Julian ist, authentisch zu sein und gleichzeitig die Erwartungen anderer zu erfüllen.
Der Titel Schnee, Beton passt perfekt zu der emotionalen Kälte, die Julian oft umgibt. Der Schnee steht hier für eine Leere und Kälte, die sowohl äußerlich als auch innerlich in Julians Leben herrscht, während der Beton den starren Rahmen seiner beruflichen und persönlichen Welt symbolisiert.
Über den Autor
Marcus Wichmann, geboren 1968 in Celle, ist Professor für Kommunikationsdesign in Stuttgart. Schnee, Beton ist sein erstes Werk, das im Gmeiner Verlag erschienen ist. Zuvor war er hauptsächlich im Bereich des Kommunikationsdesigns tätig, was man auch in seinem literarischen Stil spüren kann – klar, auf den Punkt gebracht, und dabei immer mit einer reflektierten Tiefe.
Fazit
Für mich ist Schnee, Beton ein kraftvoller Roman über Selbstzweifel, die Fragilität menschlicher Beziehungen und den Druck, in einer starren, strukturierten Welt zu bestehen. Marcus Wichmann erzählt diese Geschichte in einer klaren, unaufgeregten Sprache, die mich tief berührt hat. Wer auf der Suche nach einem Roman ist, der die leisen Töne beherrscht und dennoch vielschichtig ist, wird mit Schnee, Beton auf jeden Fall fündig.
