Remix Almanya (Hannibal Verlag)
Oktober 2024
Remix Almanya
Als ich „Remix Almanya“ von Murat Güngör und Hannes Loh in die Hand nahm, erwartete ich eine chronologische Erzählung der deutschen HipHop-Szene. Doch das Buch bietet weit mehr. Es ist eine tiefgehende, gesellschaftspolitische Analyse, die nicht nur HipHop als Musikform betrachtet, sondern auch die Migrantengeschichten, die diesen Stil geprägt haben.
Ein tiefer Blick in die HipHop-Szene
„Remix Almanya“ ist keine bloße Auflistung von Ereignissen oder ein nostalgischer Rückblick auf die „guten alten Zeiten“ des HipHop. Stattdessen stellen die Autoren, Murat Güngör und Hannes Loh, die Entwicklung der HipHop-Kultur als Spiegelbild der postmigrantischen Gesellschaft in Deutschland dar. Sie zeigen auf, wie stark die Erfahrungen von Gastarbeitern und ihren Nachkommen die HipHop-Landschaft beeinflusst haben. Von den Jugendzentren, die als Keimzellen der deutschen HipHop-Szene dienten, bis hin zu den aktuellen Stars wie Xatar oder Eko Fresh, dokumentieren sie eine Geschichte, die immer eng mit Migration und gesellschaftlichem Wandel verbunden war.
Das Besondere an diesem Buch ist die Vielfalt an Perspektiven. Güngör und Loh führen nicht nur Interviews mit prominenten Künstlern, sondern lassen auch Soziologen, Journalisten und andere wichtige Stimmen aus den migrantischen und transnationalen Communities zu Wort kommen. Dadurch wird die HipHop-Kultur in einem breiteren, interdisziplinären Kontext betrachtet. Es wird deutlich, dass es beim deutschen HipHop immer auch um Fragen von Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Empowerment ging.
Gesellschaftlicher Wandel und HipHop
Ein zentrales Thema in „Remix Almanya“ ist die enge Verbindung zwischen HipHop und den gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland. Besonders spannend finde ich die Analyse der 1990er Jahre, als die Wiedervereinigung eine neue Dynamik in die Szene brachte. Während die westdeutschen Städte wie Frankfurt und Berlin die Wiege der HipHop-Kultur waren, prägten die Wellen von Migration und die gesellschaftlichen Umbrüche diese Kultur auf nachhaltige Weise. Diese Veränderungen zeigen sich nicht nur in den Texten der Rapper, sondern auch in der Art und Weise, wie HipHop in Deutschland zu einem kulturellen Bindeglied wurde, das Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenbrachte.
Die Autoren argumentieren, dass der Erfolg des deutschen HipHop nicht ohne die migrantischen Einflüsse denkbar wäre. Diese These wird durch zahlreiche Beispiele und Anekdoten untermauert, die das Buch zu einer lebendigen Erzählung machen. Besonders gelungen ist die Darstellung, wie HipHop zur Stimme einer ganzen Generation wurde, die sich mit Themen wie Rassismus, sozialer Ungleichheit und kultureller Identität auseinandersetzte.
Murat Güngör und Hannes Loh – Kenner der Szene
Murat Güngör und Hannes Loh sind nicht nur Chronisten der deutschen HipHop-Szene, sondern selbst tief in ihr verwurzelt. Güngör, der bereits mit seinem Buch „Fear of a Kanak Planet“ 2002 einen Standard gesetzt hat, und Loh, ein ehemaliger Rapper und heutiger Lehrer, sind seit über 25 Jahren in der Szene aktiv. Ihre Expertise spürt man auf jeder Seite. Die beiden Autoren verstehen es, die kulturellen und sozialen Zusammenhänge zu erklären, ohne den Leser dabei zu belehren. Ihre „Lecture Performances“, mit denen sie das Buch bundesweit präsentieren, sind dafür ein weiterer Beweis: Sie kombinieren Lesung, Musik und Film zu einer interaktiven Erfahrung.
Loh und Güngör gehen weit über die reine Musikanalyse hinaus und beleuchten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die den HipHop in Deutschland zu dem gemacht haben, was er heute ist. Diese umfassende Perspektive macht das Buch nicht nur für HipHop-Fans interessant, sondern auch für Leser, die sich mit Migration, Kulturgeschichte und den sozialen Veränderungen in Deutschland befassen.
Ein Buch, das Fragen aufwirft
Was mich besonders beeindruckt hat, ist, dass „Remix Almanya“ keine endgültigen Antworten liefert, sondern vielmehr Fragen aufwirft. Es zeigt auf, wie sich die HipHop-Szene in Deutschland seit den frühen 1980er Jahren entwickelt hat, und gleichzeitig fragt es, wohin die Reise geht. Was bedeutet es, wenn ein Genre, das einst als Stimme der Marginalisierten galt, heute im Mainstream angekommen ist? Und wie kann HipHop weiterhin eine Plattform für diejenigen bieten, die am Rande der Gesellschaft stehen?
Das Buch regt zum Nachdenken an und lädt dazu ein, die eigene Sicht auf die HipHop-Kultur zu hinterfragen. Dabei gehen die Autoren auch auf die heutige Szene ein und werfen einen kritischen Blick auf den kommerziellen Erfolg des Genres. Besonders die Interviews mit Künstlern wie Xatar und Eko Fresh zeigen auf, wie sehr sich die Szene verändert hat und welche Herausforderungen sie heute zu bewältigen hat.
Fazit
„Remix Almanya“ ist ein Muss für alle, die sich für die deutsche HipHop-Szene interessieren. Es ist mehr als nur ein Buch über Musik – es ist eine Reflexion über Migration, Identität und Gesellschaft in Deutschland. Murat Güngör und Hannes Loh liefern eine fundierte und gleichzeitig unterhaltsame Analyse, die weit über die Grenzen der HipHop-Kultur hinausgeht. Ein Werk, das zum Nachdenken anregt und die Bedeutung von HipHop als kulturelles Phänomen in einem neuen Licht erscheinen lässt.