Pura Vida (Bilgerverlag)
September 2024
Pura Vida: Leben und Sterben des William Walker
„Pura Vida: Leben und Sterben des William Walker“ von Patrick Deville ist mehr als nur ein Buch – es ist eine literarische Zeitreise in die Mitte des 19. Jahrhunderts, die uns die turbulente Geschichte Mittelamerikas näherbringt. Ich fühlte mich beim Lesen in eine längst vergangene Welt katapultiert, in der Revolutionen, Machtspiele und der Drang nach Ruhm das Leben bestimmten. Der Fokus des Buches liegt auf dem faszinierenden, wenngleich umstrittenen Leben des amerikanischen Abenteurers und Filibusters William Walker. Doch Deville bleibt nicht bei einer einzelnen Biografie stehen, sondern verwebt die Lebensgeschichten anderer einflussreicher Persönlichkeiten zu einem großen Panorama der Region.
Ein außergewöhnlicher Autor mit einer klaren Mission
Patrick Deville, geboren 1957 in Saint-Brevin-les-Pins, Frankreich, hat sich mit seinem Ansatz der „Romane ohne Fiktion“ einen besonderen Platz in der Literaturszene erarbeitet. Seine Werke basieren auf akribischer Recherche und tragen oft autobiografische Züge, da der Autor für seine Bücher die beschriebenen Schauplätze bereist. Deville ist ein Weltreisender, ein literarischer Globetrotter, der historische Persönlichkeiten und Ereignisse mit literarischer Eleganz aufbereitet. Seine Leitung des „Maison des écrivains étrangers et des traducteurs“ in Saint-Nazaire sowie mehrere renommierte Literaturpreise zeugen von seiner Bedeutung in der modernen Literatur.
William Walker: Der Mann, der Präsident von Nicaragua wurde
Im Mittelpunkt des Buches steht William Walker, eine kontroverse Figur der amerikanischen und mittelamerikanischen Geschichte. Walker war Arzt, Jurist, Journalist – und Abenteurer. Sein Versuch, Teile Mittelamerikas für die USA zu erobern und ein privates „Imperium“ zu errichten, gipfelte in seiner Selbsternennung zum Präsidenten von Nicaragua im Jahr 1856. Doch seine Macht war ebenso kurzlebig wie sein Ruhm, und er endete 1860 vor einem Erschießungskommando in Honduras.
Deville schildert Walkers Leben in einer fesselnden Mischung aus Biografie, Essay und Historie. Man spürt, wie der Autor einerseits die Ambitionen und den Wagemut dieser Figur bewundert, andererseits jedoch nicht mit Kritik an der moralischen Fragwürdigkeit seines Handelns spart. Besonders spannend fand ich die Passagen, in denen Deville die damalige politische Situation in Mittelamerika beleuchtet und Walkers Taten in einen größeren historischen Kontext stellt.
Mehr als eine Biografie
Was dieses Buch so besonders macht, ist die Art und Weise, wie Deville William Walkers Geschichte mit anderen revolutionären Erzählungen verknüpft. Simón Bolívar, Francisco Morazán und Augusto César Sandino – all diese Namen tauchen im Laufe der Erzählung auf, und plötzlich wird klar, dass es Deville um mehr geht als nur um Walkers Abenteuer. Er zeichnet ein kaleidoskopartiges Bild der politischen Umwälzungen, die Mittelamerika geprägt haben, und zeigt die wiederkehrenden Muster von Imperialismus, Revolution und Widerstand.
Die Fülle an Figuren und Ereignissen mag auf den ersten Blick überwältigend wirken, doch sie eröffnet dem Leser auch die Möglichkeit, Mittelamerika aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Ich habe mich beim Lesen oft gefragt, wie diese Region ohne die Einmischung externer Mächte hätte aussehen können.
Eine einzigartige literarische Herangehensweise
Patrick Deville arbeitet nicht mit einer traditionellen, linearen Erzählstruktur. Stattdessen bedient er sich einer Collage-Technik: Anekdoten, historische Fakten und persönliche Reflexionen wechseln sich ab. Diese Herangehensweise fordert die Leserschaft, belohnt sie jedoch mit einem tieferen Verständnis der komplexen Zusammenhänge. Devilles Schreibstil ist dabei eine Mischung aus Ironie und Melancholie, was die Lektüre trotz der oft tragischen Themen angenehm macht.
Ein Beispiel hierfür ist die Art, wie Deville Walkers Scheitern beschreibt. Obwohl klar wird, dass Walker ein Symbol für den amerikanischen Imperialismus ist, schafft es der Autor, ihm eine gewisse Menschlichkeit zu verleihen. Man spürt, dass Walker nicht nur ein skrupelloser Abenteurer, sondern auch ein Mensch mit Träumen und Schwächen war.
Der historische Kontext
Ein weiteres Highlight des Buches ist Devilles Fähigkeit, die Geschichte Mittelamerikas lebendig werden zu lassen. Er beschreibt nicht nur die politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch die sozialen und kulturellen Hintergründe. Die Landschaften, die Lebensumstände der Menschen und die Atmosphäre der damaligen Zeit werden so eindrucksvoll geschildert, dass ich das Gefühl hatte, selbst durch die Straßen Nicaraguas zu gehen oder in einem der überfüllten Schiffe zu sitzen, mit denen Walker und seine Männer reisten.
Fazit: Ein Meisterwerk der literarischen Dokumentation
„Pura Vida“ ist ein Buch, das sich nicht leicht in eine Schublade stecken lässt. Es ist Biografie, Geschichtsbuch und literarisches Werk zugleich. Patrick Deville gelingt es, die Vergangenheit auf eine Weise zum Leben zu erwecken, die sowohl informativ als auch emotional berührend ist. Für alle, die sich für Geschichte, Politik oder literarisch anspruchsvolle Werke interessieren, ist dieses Buch eine absolute Empfehlung.
Ich schätzte besonders die Tiefe und Komplexität der Erzählung, auch wenn sie manchmal eine Herausforderung darstellt. Doch gerade diese Herausforderung macht „Pura Vida“ zu einem Buch, das im Gedächtnis bleibt – und vielleicht sogar die eigene Sicht auf die Welt verändert.