Kalte Füße (Wagenbach Verlag)
September 2024
Kalte Füße von Francesca Melandri
Francesca Melandri hat mit ihrem neuen Roman Kalte Füße (erschienen im Wagenbach Verlag) eine zutiefst berührende und gleichzeitig erschütternde Geschichte über Krieg, Trauma und die Suche nach den Spuren der Vergangenheit geschaffen. Der Roman greift ein zentrales Thema unserer Zeit auf und verwebt es meisterhaft mit einem Stück europäischer Geschichte, das für viele Italiener noch immer schmerzhaft und unausgesprochen ist.
Einblick in die Handlung
Die Geschichte spielt während des Zweiten Weltkriegs, als italienische Soldaten, schlecht ausgerüstet und in der Kälte Russlands kämpfend, einen Rückzug antraten, der für viele mit dem Tod endete. Tausende Soldaten erfroren in Schuhen mit Pappsohlen, ein Trauma, das sich tief ins kollektive Gedächtnis Italiens eingebrannt hat. Im Mittelpunkt von Kalte Füße steht Melandris eigener Vater, der diesen schrecklichen Rückzug überlebte. Erst Jahrzehnte später, als 2022 die Ukraine erneut zum Schauplatz eines Krieges wurde, begreift Melandri, dass die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs, die ihr Vater durchquerte, genau jene Orte waren, die nun in den Nachrichten auftauchten.
Besonders eindrucksvoll ist eine Szene im Militärlazarett in Venedig, die das Buch eröffnet: Eine Mutter hebt die Decke am Bett ihres verwundeten Sohnes und zählt vorsichtig die Zehen. Die bedrückende Atmosphäre des Lazaretts – der Gestank von Wundbrand, der Schweiß und das Fieber – wird in jeder Zeile spürbar. Es ist eine Szene, die nicht nur die Brutalität des Krieges aufzeigt, sondern auch die verzweifelte Hoffnung der Mutter, dass das Unvorstellbare nicht eingetreten ist.
Die Kunst des Erzählens
Melandri zeigt in diesem Buch eine ihrer größten Stärken: die Fähigkeit, persönliche und historische Ereignisse miteinander zu verweben. Kalte Füße ist mehr als nur die Geschichte ihres Vaters, es ist ein Dialog mit der Vergangenheit und eine Reflektion über die Verantwortung, die wir gegenüber unserer Geschichte und der heutigen Welt tragen. Der Roman zeigt, wie Krieg nicht nur Körper, sondern auch Seelen zerstört und Generationen später noch in Familien nachhallt. Die Autorin lässt die Stille sprechen, eine Stille, die über Jahrzehnte andauerte und erst durch den aktuellen Krieg in der Ukraine gebrochen wurde. Sie setzt sich dabei kritisch mit den Fragen auseinander, was es bedeutet, auf der „falschen“ Seite gekämpft zu haben, und wie die Kriegsverbrechen von damals unser heutiges Verständnis von Verantwortung und Gerechtigkeit prägen sollten.
Francesca Melandri: Die Autorin hinter der Geschichte
Francesca Melandri, geboren in Rom, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Italiens. Bevor sie mit dem Schreiben von Romanen begann, machte sie sich als Drehbuchautorin für Kino und Fernsehen einen Namen. Ihr Debütroman Eva schläft machte sie auch einem deutschen Publikum bekannt, während ihr dritter Roman Alle, außer mir 2018 den Durchbruch in Deutschland brachte. Melandri versteht es, persönliche Schicksale mit den großen Themen der Geschichte zu verbinden. In Kalte Füße führt sie diese Fähigkeit auf eindrucksvolle Weise weiter und bringt dabei nicht nur die Schrecken des Zweiten Weltkriegs in Italien, sondern auch die aktuellen Ereignisse in der Ukraine in den Fokus.
Fazit: Ein Buch mit tiefer Relevanz
Kalte Füße ist ein Buch, das nicht nur emotional berührt, sondern auch intellektuell herausfordert. Es fordert den Leser auf, sich mit den Schrecken des Krieges und den oft unausgesprochenen Kapiteln der europäischen Geschichte auseinanderzusetzen. Melandri gelingt es, ein Stück italienischer Geschichte ins Bewusstsein zu rücken, das auch heute noch von Bedeutung ist. Der Roman ist sowohl ein Akt der Erinnerung als auch eine Mahnung, unsere historische Verantwortung nicht zu vergessen.
Wenn du ein Buch suchst, das nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern auch die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt, ist Kalte Füße eine eindrucksvolle und wichtige Lektüre.
