Die Nähe der Sonne (Jung u. jung)
September 2024
Die Nähe der Sonne von Gernot Wolfgruber
Gernot Wolfgrubers Roman Die Nähe der Sonne, erschienen im Jung und Jung Verlag, stellt einen kraftvollen Abschluss seines literarischen Schaffens dar. Nachdem der österreichische Autor nach einer langen Pause wieder in den Literaturbetrieb eingetreten ist, liefert er ein Werk, das gleichermaßen intensiv wie verstörend ist. Auf 384 Seiten entfaltet sich die Geschichte um Stefan Zell, einen Mann, der mit den Verlusten und Widersprüchen seines Lebens konfrontiert wird. Das Buch bietet dem Leser eine dichte Atmosphäre, in der Licht und Dunkelheit metaphorisch und buchstäblich aufeinanderprallen.
Eine Reise ins Ungewisse
Im Mittelpunkt der Handlung steht Stefan Zell, der nach dem Tod seiner Eltern aus dem Urlaub zurückkehrt, um sich dem Leben zu stellen, das er hinter sich gelassen hat. Schon die ersten Seiten vermitteln ein Gefühl von Unbehagen, das den Leser durch das gesamte Buch begleitet. Stefan ist mit seiner Partnerin Hanna in einer schwierigen Situation, da sie ein Kind bekommen hat, das er nie wollte. Diese emotionale Entfremdung spiegelt sich in seinem gesamten Leben wider, und Wolfgruber zeichnet ihn als einen Mann, der sich zwischen Flucht und Sehnsucht nach Erfüllung bewegt. Der Protagonist träumt von einem intensiveren Leben, einem reinen, ungetrübten Glück, doch je näher er diesem Wunsch kommt, desto stärker wird er von inneren und äußeren Konflikten zerrissen.
Gernot Wolfgruber gelingt es meisterhaft, diese Reise ins Ungewisse darzustellen. Die bildhafte Sprache des Autors lässt die Gefahren, die in der Helligkeit lauern, und die Narben, die Triumphe hinterlassen, förmlich spürbar werden. Das Licht in diesem Roman ist nicht nur Symbol für Klarheit und Erkenntnis, sondern auch für Verführung und Zerstörung. Wolfgruber nutzt diese Symbolik, um die Spannung zwischen Selbstzerstörung und Erlösung zu verstärken.
Ein Autor gegen den Zeitgeist
Gernot Wolfgruber gilt als scharfer Kritiker seiner Zeit. Bereits in seinen früheren Werken wie Herrenjahre und Niemandsland zeigte er seine Vorliebe für Charaktere, die sich mit gesellschaftlichen Normen schwer tun. Auch in Die Nähe der Sonne bleibt er seiner Linie treu. Die Beziehung zwischen Stefan und Hanna ist nicht nur eine private Tragödie, sondern ein Abbild der größeren gesellschaftlichen Zerwürfnisse, die Wolfgruber in der österreichischen Gegenwartsliteratur anprangert. Seine Prosa ist präzise, oft gnadenlos in ihrer Beobachtung und lässt keinen Raum für Illusionen. Das Leben ist, wie es ist – hart, widersprüchlich und selten fair.
Wolfgruber selbst bringt eine interessante Biografie mit. Ursprünglich begann er seine berufliche Laufbahn als Textildrucker und Hilfsarbeiter, bevor er über den zweiten Bildungsweg seine Matura und ein Studium der Publizistik abschloss. Diese Wurzeln spiegeln sich in der bodenständigen und zugleich komplexen Herangehensweise an seine literarischen Themen wider. Auch in Die Nähe der Sonne wird deutlich, dass Wolfgruber ein tiefes Verständnis für das Scheitern und die Hoffnungen seiner Figuren hat.
Die zerstörerische Kraft der Sonne
Die Sonne, die dem Buch seinen Titel gibt, dient als doppeldeutiges Motiv. Sie steht für das Leben, das wir uns erhoffen, für das warme, alles durchdringende Licht der Klarheit. Doch ebenso ist sie Symbol für die brennende Kraft, die alles zerstören kann, was ihr zu nahe kommt. Stefan Zell, der Protagonist, scheint sich diesem Licht immer mehr zu nähern, doch statt Erleuchtung und Erlösung findet er nur Schmerz und Verwüstung. Es ist diese ständige Spannung, die den Roman so packend macht. Als Leser kann man nicht anders, als mit Stefan in diese sengende Glut zu gehen, auch wenn man weiß, dass es wahrscheinlich kein Entkommen geben wird.
Wolfgruber beherrscht es, diesen existenziellen Kampf mit einer dichten und oft poetischen Sprache zu schildern. Besonders beeindruckend ist, wie er die inneren Monologe seiner Figur nutzt, um die Zerrissenheit Stefans darzustellen. Es sind nicht die großen äußeren Ereignisse, die in diesem Roman im Vordergrund stehen, sondern die stille, aber intensive Auseinandersetzung eines Mannes mit sich selbst und seinen verpassten Chancen.
Fazit: Ein intensives Leseerlebnis
Die Nähe der Sonne ist kein Buch für leichte Lektüre. Es fordert vom Leser Aufmerksamkeit und Bereitschaft, sich auf eine emotionale und psychologische Reise zu begeben. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem Werk belohnt, das tief unter die Oberfläche unserer alltäglichen Existenz dringt. Gernot Wolfgruber zeigt einmal mehr, warum er als einer der bedeutendsten Vertreter der österreichischen Literatur gilt. Sein Buch ist eine gelungene Mischung aus psychologischem Drama und poetischer Reflexion, das den Leser noch lange nach dem Zuklappen des Buches beschäftigen wird.
