Das Kind ist ein Buch aus dem Unionsverlag und erschien am 9. September 2024.
Möchten Sie das digitale Leseerlebnis für sich entdecken? Dann empfehle ich Ihnen diesen eReader als ausgezeichnete Wahl: eReader tolino epos 3.
Das Kind
In der Familie des jungen Jacques gelten harsche Regeln von Sitte und Anstand, ständig eckt er an. Nur bei seiner Cousine auf dem Land entkommt er dem strengen Elternhaus. Aus den Hinterhöfen steigt der Gestank von gekochtem Schlamm, aber die Geschichten seines Onkels und das Treiben der Tischlergesellen sorgen für Abwechslung. Als er Bücher in die Finger bekommt, die von Revolution sprechen, ist er gefangen von den Stimmen, die seine Lasten zu kennen scheinen. Jules Vallès widmet seine Geschichte all jenen, »die in der Schule vor Langeweile umkamen oder zu Haus weinten, die in der Kindheit von ihren Lehrern tyrannisiert oder von ihren Eltern verprügelt wurden«. Ein unverzichtbarer Klassiker der Weltliteratur.
„Das Kind“ von Jules Vallès ist ein Buch, das mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Es ist der erste Teil der sogenannten „Jacques Vingtras“-Trilogie und erschien ursprünglich 1879. Der Roman erzählt die Geschichte von Jacques Vingtras, einem Jungen, der in einer von strengen Moralvorstellungen geprägten Familie aufwächst und immer wieder aneckt. Schon von Beginn an wird klar, dass Vallès sich nicht scheut, schmerzhafte, ja teils brutale Wahrheiten über das Leben eines Kindes in einer autoritären Gesellschaft zu erzählen. Gleichzeitig schafft er es aber, eine erstaunliche Balance zwischen tragischen und komischen Momenten herzustellen. Der Protagonist Jacques steht unter dem starken Einfluss seiner Mutter, die ihre Liebe durch ständige Bestrafungen und körperliche Gewalt ausdrückt. Diese Beziehung bildet den Kern des Buches und zeigt auf schockierende Weise, wie die emotionalen und physischen Misshandlungen, denen Jacques ausgesetzt ist, seine Kindheit prägen. Vallès beschreibt diese Momente mit einer erstaunlichen Lebendigkeit und emotionalen Tiefe. Besonders beeindruckt hat mich dabei seine Fähigkeit, die Gefühle und Gedanken des Kindes so plastisch darzustellen, dass ich oft das Gefühl hatte, direkt in die Haut von Jacques zu schlüpfen.
Was mich besonders berührt hat, ist Vallès‘ Verwendung von Ironie. Jacques kommentiert seine eigenen Erfahrungen auf eine Weise, die gleichzeitig naiv und tiefgründig ist. Ein Beispiel ist seine Beobachtung, dass seine Mutter ihn regelmäßig verprügelt, weil „man Kinder nicht verwöhnen sollte“. Diese ironische Distanz bringt eine Leichtigkeit in die oft düsteren Szenen, die die Lektüre trotz der schweren Thematik unglaublich fesselnd macht. Ein weiteres faszinierendes Element des Romans ist die Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Vallès malt ein lebendiges Bild des ländlichen Frankreichs im 19. Jahrhundert, das von Armut, strengen sozialen Normen und der Hoffnung auf sozialen Aufstieg geprägt ist. Jacques‘ Eltern streben danach, ihm durch Bildung eine bessere Zukunft zu ermöglichen, doch als er in Kontakt mit revolutionären Ideen kommt, beginnt er, diese Erwartungen zu hinterfragen. Hier spiegelt sich auch Vallès‘ eigene Biografie wider, der als Journalist und Revolutionär selbst aktiv an den politischen Umwälzungen seiner Zeit beteiligt war. Diese Nähe zur Realität verleiht dem Roman eine zusätzliche Authentizität.
Die Figuren sind nicht nur lebensecht, sondern auch satirisch überzeichnet. Die Mutter, die Lehrer und andere Autoritätspersonen werden oft in einer Weise dargestellt, die ihre Machtposition hinterfragt und lächerlich macht. Vallès gelingt es, die Tyrannei und das Leid, das viele Kinder in jener Zeit erlebten, nicht nur aufzuzeigen, sondern auch zu kritisieren. Dies ist kein gewöhnlicher Bildungsroman, sondern eine Art Anklage gegen ein System, das Kinder ihrer Freiheit und ihrer Freude beraubt. Stellenweise erinnert mich der Roman auch an die literarische Tradition des französischen Realismus und Naturalismus, mit der detaillierten Schilderung von Umgebungen und Menschen. Besonders die Beschreibung von Jacques‘ Cousine Apollonie ist mir im Gedächtnis geblieben. Sie repräsentiert eine Art unerfüllte Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Zuneigung, die der Junge in seiner eigenen Familie nicht findet. Diese Sinnlichkeit und die damit verbundene Scham und Neugier des Heranwachsenden sind meisterhaft beschrieben und tragen zur emotionalen Tiefe des Romans bei.
Besonders erwähnenswert ist auch die gelungene deutsche Übersetzung von Christa Hunscha, die die Sprache des Originals auf beeindruckende Weise einfängt. Obwohl die Übersetzung bereits 1979 entstand, hat sie nichts von ihrer Frische und Lebendigkeit eingebüßt. Insgesamt ist „Das Kind“ ein Roman, der gleichermaßen berührt, erheitert und nachdenklich macht. Jules Vallès gelingt es, die Erfahrungen eines missverstandenen Kindes in einer Weise zu schildern, die sowohl zeitlos als auch universell ist. Dieser Roman sollte in keiner Sammlung fehlen, die sich mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Seine Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor, gepaart mit einer scharfen Sozialkritik, machen ihn zu einem Meisterwerk, das weit über die Grenzen seiner Zeit hinausreicht.
Das Kind
Hat mir besonders gefallen
- Die Figuren, insbesondere Jacques und seine Mutter, sind realistisch und vielschichtig dargestellt. Ihre Beziehung ist emotional intensiv und gut nachvollziehbar.
- Die ironische Distanz, die Jacques zu seiner eigenen Situation aufbaut, verleiht der Erzählung eine besondere Tiefe und macht die Lektüre trotz der düsteren Thematik unterhaltsam.
- Der Roman prangert auf subtile Weise die Missstände der Gesellschaft und das autoritäre Erziehungssystem an, was auch heute noch relevant ist.
- Vallès gelingt es, eine perfekte Balance zwischen humorvollen und tragischen Momenten zu schaffen, was den Roman emotional fesselnd macht.
- Die deutsche Übersetzung von Christa Hunscha ist gelungen und bewahrt die Lebendigkeit und Frische des Originals.