Ihr werdet sie nicht finden (Rowohlt)
Juni 2025
Ihr werdet sie nicht finden
Ich habe „Ihr werdet sie nicht finden“ von Andreas Winkelmann gelesen und konnte das Buch kaum aus der Hand legen. Die Prämisse ist klassisch und doch ungewöhnlich spannend: Ein Mädchen verschwindet spurlos, der Vater begeht einen verhängnisvollen Fehler, und nun taucht Jahre später eine andere junge Frau auf, die manches zu wissen scheint – und dann verschwindet auch sie. Diese doppelte Vermisstensituation erzeugt von Seite zu Seite klaustrophobische Spannung.
Der anfängliche Sog entsteht sofort: Dank der Ich-Erzählweise erlebe ich Jonas‘ quälende Schuldgefühle hautnah. Er war Polizist, doch durch seine Taten wurde er aus dem System ausgeschlossen. Franka tritt dagegen als scharfsinnige Privatdetektivin mit einem Faible für digitale Spuren auf. Ihre Expertise hebt den Thriller über gewöhnliche Klischees hinaus. Die beiden misstrauen einander, arbeiten aber schließlich auf dasselbe Ziel hin – ein Duo, das mir von Beginn an sympathisch war, weil ihre Beziehungen so vielschichtig und ehrlich wirken.
Die Figuren sind weit mehr als Projektionsflächen für den Plot. Jonas ringt mit tiefen Schuldgefühlen gegenüber seiner Tochter, die er nie vergessen hat. Franka wiederum trägt ihr eigenes Geheimnis mit sich herum, das sie emotional belastet. Mir gefiel, wie Winkelmann diesen inneren Konflikt subtil einfließen lässt, ohne zu viel zu erklären – man spürt, dass hinter jeder Entscheidung eine Geschichte steckt. Begleitende Nebencharaktere wie Enrique, ein Freund aus Jonas’ früherer Zeit, oder eine geheimnisvolle Zeugin aus Frankas Umfeld, bekommen in kurzen Szenen ausreichend Gewicht, um glaubwürdig Teil des Ganzen zu sein.
Der Aufbau des Thrillers ist tight. Wechselnde Perspektiven – aus Jonas‘ Sicht, aus Frankas Perspektive und gelegentlich kurze Einblicke von Nebenfiguren – halten das Tempo hoch und verschachteln die Timeline geschickt. Rückblenden zum Ursprung des Geschehens nähren das Rätsel, das mich stutzig machte: Was ist damals wirklich geschehen? Immer wenn ich dachte, schon etwas geahnt zu haben, brachte Winkelmann eine neue Wendung ins Spiel.
In den knapp 400 Seiten – genau gesagt 384, erschienen am 17. Juni 2025 gibt es genug Raum für Atmosphäre, ohne Längen. Das ist beim Thriller nicht selbstverständlich. Aber hier fand ich keinen Moment, an dem das Tempo nachließ. Der Spannungsbogen zieht sich konsequent durch das Buch bis zum packenden Finale, in dem ein letztes Puzzlestück den Kreis schließt – und dennoch Fragen offenbleiben, die mich nach dem Umblättern weiter beschäftigten.
Ein bisschen mehr Auflösung eines Nebenstrangs hätte mir gefallen – kleine lose Enden hinterließen eine leichte Unruhe. Aber in Summe ist das eher ein Zeichen, dass der Plot mich nicht loslässt, als ein Manko. Vielmehr empfinde ich es als gelungen, dass Winkelmann nicht alles vorweg nimmt, sondern mir Raum lässt, nachzudenken – und vielleicht sogar ein zweites Lesen provoziert.
Tiefgang und Themenschwerpunkte
Der Thriller setzt sich gezielt mit Schuld, Vergebung und der Suche nach Wahrheit auseinander. Jonas kämpft mit der Frage, ob Gewalt jemals eine Antwort ist – und was es bedeutet, die Grenze zu überschreiten. Franka spielt das moralische Gegenstück: sie glaubt an Informationen und Beweise, um Gerechtigkeit herzustellen. Ihre Begegnung ist irgendwo eine Verhandlung darüber, wie weit man gehen darf – und wie viel man übergrenzen muss. Das Ermittlungsdoppel hinkt dabei nicht dem Genre hinterher, sondern fügt der Geschichte philosophische Tiefe hinzu.
Gleichzeitig thematisiert der Roman moderne Aspekte: Digitale Spuren und Datenschutz spielen eine Rolle. Frankas Fähigkeiten sind nicht esoterisch, sondern technisch fundiert – das gibt dem Szenario eine zeitgemäße Note. Außerdem werden persönliche Abgründe und psychische Belastungen deutlich, ohne auf einen übertriebenen Gewaltfokus zu setzen – das bleibt subtil, aber wirksam.
Schreibstil und Erzählstruktur
Winkelmann setzt auf klare, schnörkellose Sprache – ganz wie man es von ihm kennt. Er verzichtet auf literarische Extravaganzen, liefert aber atmosphärische Bilder: Dunkle Alleen, kalte Büros, flackerndes Licht – alles wird beiläufig beschrieben, aber wirksam. Die Dialoge klingen echt, nie konstruiert, und die inneren Monologe ringen mit Stimme des Alltagsmenschen. Trotz des nüchternen Tons erzeugt das Buch Emotion – weil es nah dran bleibt.
Die Kapitel sind kurz gehalten – ideal für Cliffhanger am Ende jeder Episode. Ich habe mehrfach Pausen eingelegt – aber immer, um schnell weiterzulesen. Genau solche Erzähltechnik macht das Buch zum echten Pageturner.
Atmosphäre und Soundtrack
So merkwürdig es klingt: Beim Lesen habe ich mir passenderweise einen düsteren Soundtrack vorgestellt – tiefe Streicher, leise Herzschläge. Winkelmann erschafft solche Stimmungen nicht, indem er sie beschreibt, sondern indem er Handlung und Tempo so dosiert, dass der Leser sie selbst spürt. Diese Atmosphäre bleibt auch nach dem Lesen haften – das ist ein Zeichen für gelungene Inszenierung.
Autor – Ein Blick auf Andreas Winkelmann
Andreas Winkelmann, Jahrgang 1968 in Liebenau, Niedersachsen, ist ein vielseitiger Autor, der unter verschiedenen Pseudonymen wie Frank Kodiak und Hendrik Winter schreibt. Seine Karriere reicht von Horror über Thriller bis Krimi – er begann mit Der Gesang des Scherenschleifers (2007) und schaffte es seit 2019 mit Die Lieferung in die SPIEGEL‑Bestsellerliste. Vor seinem Durchbruch war er Soldat, Taxifahrer, Lehrer und Versicherungsfachmann – all das spiegelt sich in seinen vielseitigen, realistischen Figuren. Heute lebt er mit seiner Familie nahe Bremen und zieht in seinen Büchern oft Elemente aus dunkler Vergangenheit und technischer Gegenwart zusammen – beides finde ich auch in diesem Thriller wieder.
Fazit
Ich habe „Ihr werdet sie nicht finden“ an zwei Abenden verschlungen. Der Mix aus persönlicher Schuld, moderner Ermittlungsarbeit und psychologischer Tiefe hat mich gepackt. Jonas und Franka bleiben im Kopf, ihre Konflikte ebenso wie das unaufgelöste Rätsel. Für mich einer der stärksten Winkelmann-Thriller – gut strukturiert, glaubwürdig und emotional packend. Ein perfektes Geschenk für Freunde des Psychothrillers – und auch ein Autor, der in Zukunft weiter spannend bleibt. Wenn du starke Nerven hast und Geschichten magst, die zwar realistisch bleiben, aber unter die Haut gehen – dann ist dieses Buch eine sichere Empfehlung.