Die Brücke (Heyne Verlag)
August 2024
Die Brücke
„Die Brücke“ von Monica Byrne, erschienen im Heyne Verlag, ist kein gewöhnlicher Science-Fiction-Roman. Es ist ein Roman, der sich zwar in einer fernen Zukunft abspielt, in dem jedoch die persönlichen Schicksale zweier Frauen im Vordergrund stehen. Die Geschichte spielt im Jahr 2068, einer Welt, in der die USA und Europa an Bedeutung verloren haben, während Indien und Äthiopien zu den mächtigsten Nationen aufgestiegen sind. Der TRAIL, eine gigantische Pontonbrücke, die diese beiden Länder verbindet und Solarenergie nutzt, bildet den Schauplatz der Erzählung.
Zwei Heldinnen auf der Suche nach sich selbst
Im Zentrum stehen die beiden Protagonistinnen Meena und Mariama, deren Schicksale eng miteinander verknüpft sind, obwohl sie sich nie begegnen. Meena, eine junge Frau, flieht aus Indien, während Mariama als Kind quer durch Afrika reist. Beide durchleben auf ihren jeweiligen Wegen traumatische Ereignisse und sind auf der Suche nach Antworten zu ihrer Vergangenheit. Die Parallelen ihrer Erlebnisse und die geheimnisvolle Verbindung zwischen den beiden Frauen werden nach und nach im Verlauf des Buches aufgedeckt.
Monica Byrne nutzt die Lebensgeschichten der beiden Frauen, um tiefgründige Themen wie Freiheit, Gewalt, soziale Ungerechtigkeit und die Suche nach Selbstbestimmung zu behandeln. Diese Themen werden ohne Beschönigung dargestellt, oft in einer schockierenden Intensität. Szenen von Missbrauch, Gewalt und Tod ziehen sich durch das gesamte Buch und fordern den Leser heraus, sich damit auseinanderzusetzen.
Der Stil: Schwermütig und detailreich
Monica Byrnes Schreibstil ist anspruchsvoll und direkt. Sie spart nicht an verstörenden Details, wenn sie die Herausforderungen und das Leid der beiden Frauen schildert. Dies führt dazu, dass die Stimmung des Buches durchgehend düster ist. Manche Leser könnten die detaillierten Beschreibungen von Gewalt und Vergewaltigung als überwältigend empfinden. Auch die Sprache ist roh und unsentimental, was den dystopischen Charakter der Welt unterstreicht. Trotz dieser Härte bleibt die Geschichte durch die vielen Rätsel und Enthüllungen bis zum Schluss fesselnd.
Der Aufbau des Romans ist einzigartig: Die Erzählweise wechselt zwischen den beiden Protagonistinnen, und jede von ihnen hat einen eigenen Stil, der ihre Perspektive widerspiegelt. Dies kann den Einstieg in die Geschichte erschweren, belohnt jedoch geduldige Leser mit einer tiefgründigen und vielschichtigen Erzählung. Trotz der dystopischen Zukunft und der technischen Elemente, wie der futuristischen Brücke, bleibt das Buch ein sehr menschliches Drama über das Überleben und die Selbstfindung.
Emotionale Distanz oder doch große Faszination?
Eines der auffälligsten Merkmale des Romans ist die emotionale Distanz, die einige Leser empfinden. Obwohl die Schicksale von Meena und Mariama fesselnd und schockierend sind, bleibt eine tiefe emotionale Verbindung zu den Charakteren oft aus. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass beide Frauen psychisch schwer belastet und in ihrem Verhalten manchmal schwer nachvollziehbar sind. Einige Leser berichteten, dass sie besonders zu Meena keine Verbindung aufbauen konnten, während Mariama mehr Sympathie erweckte.
Dennoch ist das Buch reich an faszinierenden Details, besonders was die Schilderung der futuristischen Welt und die kulturellen und technischen Entwicklungen angeht. Die Konstruktion des TRAILs, der die Energieprobleme der Welt löst, ist ein spannendes Konzept, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Doch auch diese futuristischen Elemente treten hinter den persönlichen Dramen der Charaktere zurück.
Fazit: Ein anspruchsvolles, aber polarisierendes Werk
„Die Brücke“ ist ein Buch, das die Leser spaltet. Es ist keine leichte Kost und definitiv nichts für zartbesaitete Gemüter. Die Gewaltdarstellungen, die emotionale Distanz und die düstere Grundstimmung machen es zu einem schwierigen Werk. Doch wer sich darauf einlässt, wird mit einer tiefgehenden und originellen Geschichte belohnt, die noch lange nachwirkt. Monica Byrne hat es geschafft, eine bedrückende Zukunftsvision zu zeichnen, die zugleich erschreckend realistisch und faszinierend ist. Für Leser, die gerne abseits der klassischen Erzählstrukturen und der „glatten“ Science-Fiction unterwegs sind, könnte „Die Brücke“ ein verstecktes Juwel sein.